
Der bekannte Schweizer Literaturkritiker Charles Linsmayer rezensiert für 20 Minuten regelmässig Neuerscheinungen und Klassiker.
LINSMAYER LIEST«Lieber Knochen als gar nichts»
In seiner Literaturkolumne rezensiert Charles Linsmayer für 20 Minuten Neuerscheinungen und Klassiker. Dieses Mal: «Ein Tag des Glücks» von Isaac Bashevis Singer.
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Fela, pummelig vor lauter Schokoladengenuss, ist zufrieden mit dem einzigen «Tag des Glücks», den ihr auf einen Brief hin ein brutaler General bereitet. «Ich sterbe glücklich», denkt sie, als sie sich danach die Pulsadern aufschneidet. Zilka verliebt sich in den schönen Jakir, der die Verlobte sitzen lässt. Als ein gewisser Illisch sich ihrer erbarmt, liegt Jakir in der Hochzeitsnacht als Phantom zwischen den beiden, sodass die Ehe annulliert wird und Zilka, zum Christentum konvertiert, ins Kloster geht. Was die Liebe als ein verrücktes, unkontrollierbares Phänomen für Folgen haben kann, macht der 1902 in Polen geborene, 1991 in Amerika verstorbene Isaac Bashevis Singer in seinen Geschichten drastisch zum Ereignis.

Isaac Bashevis Singer: «Ein Tag des Glücks», Suhrkamp-Taschenbuch, Suhrkamp Berlin 2020, ISBN 978-3518-47113-5, Fr. 20.90.
Sie spielen vor dem Ersten Weltkrieg im jüdischen Armenviertel Warschaus und sind im Original auf Jiddisch, der hebräisch geschriebenen Sprache der aschkenasischen Juden, verfasst. Viele davon lassen einen vom ersten Wort an nicht mehr los und sind derart spannend, dass es sofort klar wird, warum Singer 1978 als bisher einzigem jiddisch schreibenden Dichter der Nobelpreis verliehen wurde. Dass «Liebe eine Art Wahnsinn» ist, gilt nicht zuletzt für Jan Chwalski, der so unsterblich in Alisa verliebt ist, dass er sie Jahre nach ihrem Tod heimlich wieder ausgräbt, mit ihrem Skelett zusammenlebt und der Polizei, die das Verbrechen aufdeckt, erklärt: «Lieber Knochen als gar nichts, wenn sie mich hängen wollen, hängen sie mich, aber beerdigt mich in ihrer Nähe!»