Linsmayer liest: Zeitmaschine Zürich-Basel

Der bekannte Schweizer Literaturkritiker Charles Linsmayer rezensiert für 20 Minuten regelmässig Neuerscheinungen und Klassiker.

Der bekannte Schweizer Literaturkritiker Charles Linsmayer rezensiert für 20 Minuten regelmässig Neuerscheinungen und Klassiker.

20min/Ela Çelik
Publiziert

Linsmayer liestZeitmaschine Zürich-Basel

In seiner Literaturkolumne rezensiert Charles Linsmayer für 20 Minuten Neuerscheinungen und Klassiker. Dieses Mal: «Der blaue Siphon» von Urs Widmer.

Charles Linsmayer
von
Charles Linsmayer

Der blaue Siphon ist eine Wasserflasche, die mit Kohlensäure-Kapseln zum Sprudeln gebracht wird. 1941, als er drei Jahre alt war, stand sie in der Stube seines Elternhauses in Basel, 1991 steht sie über dem Schreibpult des Erzählers in Zürich-Hottingen. Nachts träumt er von der Flasche, deren Kapsel ihn an «Little Boy», die Atombombe erinnert, die 1945 Hiroshima zerstörte. Leben und Tod verkörpern sich in ihr, aber auch Vergangenheit und Gegenwart: die Vergangenheit von 1941 und dem Zweiten Weltkrieg, die Gegenwart von 1991 und dem Irakkrieg.

Urs Widmer: «Der blaue Siphon». Erzählung. Diogenes Taschenbuch, Fr. 13.90 bei Orell Füssli.

Urs Widmer: «Der blaue Siphon». Erzählung. Diogenes Taschenbuch, Fr. 13.90 bei Orell Füssli.

Orell Füssli

Über eine Art Zeitmaschine aber verfügt der Autor, der 1991 in Zürich aus dem Kino tritt und ins Jahr 1941 und ins Basler Elternhaus zurückversetzt wird, wo er Vater und Mutter als junges Liebespaar antrifft, das sich Sorgen um ihn, den Dreijährigen, macht, der mit dem Dienstmädchen Lisette ins Kino ging. Umgekehrt sieht sich im zweiten Romanteil 1941 der Dreijährige, aus dem Basler Kino tretend, seinerseits in die ihm fremde Welt von 1991 versetzt. In beiden Zeitebenen kommen einzig vor: Jimmy, der Hund, der im erwachsenen Mann das Kind wiedererkennt, und Isabelle, das kleine Mädchen, dem der inzwischen fünfzig Jahre ältere künftige Mann 1941 in ihrem Dorf begegnet und mit den Worten «Ich werde dich heiraten» einen Garfield-Kleber schenkt. Köstlicher, hintergründiger, lesenswerter als im Roman «Der blaue Siphon» von 1992 brachte der 2014 verstorbene Urs Widmer die reale Welt nirgends sonst in seinem imponierenden Œuvre durcheinander. 

Über Charles Linsmayer

Deine Meinung

0 Kommentare