Kinderpsychologe: «Ein Kind kann man nicht zum Duschen zwingen»

Publiziert

Kinderpsychologe«Man kann ein Kind, das sich weigert, zu duschen, nicht zwingen»

Vermehrt wollen Kinder nach dem Schulsport nicht mit den Gleichaltrigen duschen. Laut Kinder- und Jugendpsychologe Philipp Ramming ist die Nacktheit an sich aber nicht das Problem.

von
Daniel Graf
1 / 5
In vielen Schulen müssen Kinder nach dem Sport gemeinsam mit den Gspänli duschen gehen. 

In vielen Schulen müssen Kinder nach dem Sport gemeinsam mit den Gspänli duschen gehen. 

Getty Images
Nicht alle fühlen sich dabei wohl, wie ein Beispiel aus Bern zeigt. 

Nicht alle fühlen sich dabei wohl, wie ein Beispiel aus Bern zeigt. 

Getty Images/iStockphoto
Auch in der 20-Minuten-Community gibt es viele Kinder, die schlechte Erfahrungen gemacht haben. 

Auch in der 20-Minuten-Community gibt es viele Kinder, die schlechte Erfahrungen gemacht haben. 

Getty Images

Darum gehts

  • Kinder fühlen sich vermehrt unwohl, wenn sie nach dem Schulsport mit den Gspänli duschen müssen. 

  • Ein Fall im Kanton Bern, bei dem sich zwei Mädchen geweigert haben, hat in den sozialen Medien hitzige Diskussionen entfacht. 

  • Laut Kinder- und Jugendpsychologe Philipp Ramming ist das Teil des Problems: «Anstatt für die zwei Mädchen eine individuelle Lösung zu suchen, wird eine gesellschaftliche Debatte losgetreten.»

  • Er glaubt, die Nacktheit an sich sei nie das Problem. «Meist steckt eine Dynamik wie Mobbing dahinter. Dass Kinder sich unter der Dusche vergleichen, sei grundsätzlich völlig normal.»

Im Kanton Bern haben sich zwei Mädchen geweigert, nach dem Schulsport zusammen mit den anderen Mädchen duschen zu gehen. In den sozialen Medien löste das eine Kontroverse um die Duschpflicht aus, auch bei 20 Minuten haben sich Dutzende Betroffene gemeldet. Der Kinder- und Jugendpsychologe Philipp Ramming schätzt ein.

Zwei Mädchen weigerten sich, nach dem Sportunterricht zu duschen. Können Sie das nachvollziehen?

Philipp Ramming: Ja, solche Einzelfälle können vorkommen. Im Alter von vielleicht zehn, elf Jahren, wenn die Körper sich entwickeln, vergleichen sich die Kinder: Wer hat schon Schamhaare, wessen Brüste sind grösser und wessen Penis länger? Das ist grundsätzlich normal. Es geht hier um Neugierde, Selbstbewusstsein und Schamgefühl, die sich entwickeln.

Trotzdem scheint es einigen dabei unwohl zu sein. Weshalb?

Wenn Kinder sich weigern, mit den gleichgeschlechtlichen Gspänli zu duschen, hat das meist mit der Dynamik innerhalb einer Klasse zu tun und nicht mit der Nacktheit an sich. Spannend wäre hier etwa zu erfahren: Hätten diese zwei Mädchen ein Problem damit, duschen zu gehen, wenn nur sie in der Dusche wären und die anderen Mädchen aus der Klasse nicht? Es geht in solchen Situationen meist um Mobbing und Gehässigkeiten.

Gehst du nach dem Sport vor dem Duschen heim?

Was kann dagegen getan werden?

Grundsätzlich hilft die Präsenz einer Lehrperson, um die Situation zu beruhigen. Natürlich soll nur eine Lehrerin in die Garderobe der Mädchen dürfen, aber das muss meiner Meinung nach möglich sein.

Einige Schulen erlauben gar keine Lehrpersonen mehr in den Garderoben ...

Das finde ich daneben. Das kommt einer Vorverurteilung der Lehrpersonen gleich und zeigt die riesige Verunsicherung an den Schulen auf. Eine Schule muss meines Erachtens fähig sein, für individuelle Probleme individuelle Lösungen zu finden. Sie muss dafür aber auch den entsprechenden Spielraum haben, etwa, dass sie Lehrpersonen in die Kabine schicken darf, ohne dass diese unter Generalverdacht stehen, etwas Schlechtes im Sinne zu haben.

Die Duschpflicht einfach stur durchzuziehen, ist demnach aber auch keine Lösung?

Nein. Man kann ein Kind, das sich weigert, mit den anderen duschen zu gehen, nicht dazu zwingen. Sture Konzepte wie eine Duschpflicht sind im Einzelfall nicht hilfreich, können beim Kind psychische Schäden hinterlassen – gerade, wenn dieses sich eh schon in einer schwierigen Situation befindet, etwa, weil es gemobbt wird.

Welche Rollen spielen bei solchen Vorfällen die sozialen Medien?

Natürlich eine riesige! Und zwar auf zwei Schienen: Einerseits sind gängige Schönheitsideale über Social Media zementiert worden und Kinder kommen schon viel früher damit in Berührung als früher. Das kann in der Entwicklung bei einigen, die nicht diesem Schönheitsideal entsprechen, zu Selbstzweifeln führen.
Andererseits verbreiten sich aber Fälle wie jener der zwei Mädchen auch extrem schnell über Social Media. Dann hat jeder eine Meinung zum Thema und schnell kommt die Debatte weg vom Einzelfall hin zur Frage, ob das Duschen mit anderen gleichgeschlechtlichen Kindern die Grenzen der körperlichen Integrität überschreitet. Das ärgert mich manchmal.

Weshalb?

Weil es in den allermeisten Fällen weder für Mädchen noch für Jungs ein Problem, sondern im Gegenteil völlig normal ist, mit den anderen duschen zu gehen nach dem Sport in der Schule oder im Verein. Wir tendieren heute dazu, aus jedem Einzelfall eine gesellschaftliche Debatte zu konstruieren. Damit wächst der Druck auf die Verantwortlichen, in dem Fall die Schulleitung. Damit ist niemandem gedient. Dazu kommt: Die Schule ist auch als Trainingsfeld für das Erwachsenenleben zu verstehen.

Inwiefern?

Wir werden im Erwachsenenalter oft mit Dingen konfrontiert, die wir in der Schule gelernt haben. Um beim Duschen zu bleiben: Im Militär kann auch nicht jeder einzeln duschen gehen, in der Badi oft auch nicht. Probleme im Einzelfall zu betrachten und Lösungen zu finden, ist absolut wichtig. Oft wird aber leider das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Keine News mehr verpassen

Mit dem täglichen Update bleibst du über deine Lieblingsthemen informiert und verpasst keine News über das aktuelle Weltgeschehen mehr.
Erhalte das Wichtigste kurz und knapp täglich direkt in dein Postfach.

Deine Meinung