Publiziert

Missbrauchte Männer«Man warf mir vor, dass ich es genossen hätte»

In Schweden eröffnete die erste Klinik für männliche Vergewaltigungsopfer. In der Schweiz gibt es zwar genug Anlaufstellen, aber zu wenig Aufklärung.

Berit Gründlers
von
Berit Gründlers
In dieser Klinik in Stockholm können sich missbrauchte und vergewaltigte Männer helfen lassen.

In dieser Klinik in Stockholm können sich missbrauchte und vergewaltigte Männer helfen lassen.

In der Schweiz wurden 2014 total 3929 Fälle von Verletzung der sexuellen Integrität zur Anzeige gebracht. Darunter fallen Straftaten wie sexuelle Handlungen mit Kindern, Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung. 538 der Betroffenen waren Männer. Das sind 13 Prozent. «Die Dunkelziffer, vor allem bei Fällen, in denen Männer als Kind missbraucht wurden, dürfte allerdings viel höher liegen», sagt Elsbeth Aeschlimann von der Opferberatung Zürich. «Häufig kommen die Männer erst sehr spät zu uns.»

In Schweden hat nun eine Klinik für Vergewaltigungen ihr Angebot auf Männer und Transsexuelle ausgeweitet. Diese können im Notfallzentrum am Södersjukhuset-Spital im Süden Stockholms rund um die Uhr Hilfe suchen. «So etwas hätte ich mir damals auch gewünscht», sagt Lorenzo*. «Ich wurde im Alter von 10 bis 16 Jahren regelmässig von einem älteren Mann befummelt. Man erzählte mir, dass das okay ist und ich habe erst viel später begriffen, dass er dazu kein Recht hatte.» Als er Jahre später seine Familie informierte, stiess er auf wenig Verständnis: «Als ich mich dann noch als schwul outete, wurde mir gesagt, dass ich den Missbrauch doch genossen hätte», so der 32-Jährige weiter.

Genug Anlaufstellen, aber zu wenig Aufklärung

«Wenn Männer Opfer sexueller Übergriffe werden, brauchen sie in der Regel mehr Überwindung, um sich Hilfe zu holen. Das Bild vom starken Mann, der allein mit seinen Problemen klarkommen muss und die Scham, Opfer geworden zu sein, stehen ihnen oft im Weg», sagt Aeschlimann. So erging es auch Dominik*. Der 20-Jährige wurde mit K.-o.-Tropfen betäubt und missbraucht. «Ich hätte mir professionelle Hilfe suchen sollen, aber ich wollte nicht. Die Angst, dass es jeder erfährt und ich blossgestellt werde, war einfach zu gross.» Weiter sagt er, dass viel zu wenig über sexuelle Gewalt an Männern gesprochen wird: «Frauen bekommen viel mehr Unterstützung. Wir Männer müssen das selbst durchstehen.»

Hilfe für Männer bieten die Opferberatungen der Kantone. «Wir bieten den Männern psychosoziale und juristische Beratung an und vermitteln bei Bedarf weiterführende Hilfen, das können Therapien sein», sagt Aeschlimann von der Opferberatung, Zürich. «Als Erstes möchten viele Männer ihren Missbrauch zur Anzeige bringen. Leider sind viele Fälle verjährt. In einem zweiten Schritt versuchen wir, den Betroffenen psychologische Hilfe zu vermitteln.» Das grösste Problem sei die Öffentlichkeitsarbeit. «Dass auch Männer Opfer sein können, ist vielen einfach nicht klar. In den Köpfen sind Männer Täter. Darum müsste viel mehr aufgeklärt werden.»

«Die Gesellschaft sieht Männer immer noch hauptsächlich als Täter, nicht als Opfer»

Der 28-jährige Tobias* wurde als Teenager mehrfach von einem Mann vergewaltigt. Sein Peiniger belästigte über Jahre Kinder, aber erst Tobias brachte das Geschehene zur Anzeige. «So kam die Sache an die Öffentlichkeit und ich ging durch die Hölle», sagt der junge Mann. «Ich wurde verprügelt, bespuckt und als schwul bezeichnet.» Aber auch heute trifft er oft auf Unverständnis. «Wenn ich eine Frau kennenlerne, erzähle ich meist recht früh davon. Ich habe manchmal Mühe mit sexueller Nähe. Die meisten Frauen waren geschockt, dass auch Männer vergewaltigt werden können. Das ist einfach viel zu wenig bekannt.»

Um dies zu ändern, bräuchte es Kampagnen. Und für diese wiederum braucht es Geld. Elsbeth Aeschlimann dazu: «Wir müssen unsere Öffentlichkeitsarbeit weitgehend mit Spenden finanzieren. Das Sammeln für männliche Opfer gestaltet sich schwierig, weil die Gesellschaft immer noch das Bild vom Mann als Täter und nicht als Opfer hat.»

*Name von der Redaktion geändert.

Beratungsstellen für Männer

Für Männer in Notsituationen stehen in den Kantonen die Opferberatungen zur Verfügung. In akuten Notfällen können sich Kinder und Jugendliche an die Telefonnummer 147 von ProJuventute, Erwachsene an die dargebotene Hand unter der Telefonnummer 143 oder an die Polizei wenden.

Deine Meinung