Täter im Wahn14 Schüsse abgefeuert – Gericht spricht Polizisten frei
Nach über einem Jahr kam es zum Prozess gegen zwei Polizisten, die L.D.* mit Schüssen stoppten. Dies, nachdem er nicht aufhören wollte, auf die Italienerin T.S.* einzuschlagen. Die Beamten wurden freigesprochen. Den Prozessverlauf kannst du im Ticker nachlesen.
- von
- Leo Butie
«Das Gericht ist klar zum Schluss gekommen, dass die Polizisten richtig gehandelt haben»
Es folgt die Begründung. «Wir mussten nicht lange darüber diskutieren», sagt der Richter. Die Polizei hat den Auftrag, die Bürger zu schützen. «Die Beamten trafen eine Person in grosser Lebensgefahr an. Sie haben die Person korrekterweise geschützt», so der Richter. Sie eröffneten das Feuer, um das Leben des Opfers zu retten. «Sie haben gehandelt, wie es das Gesetz von ihnen verlangt und auf den Tatbestand der Notwehrhilfe reagiert.» Im Nachhinein ist man immer gescheiter. Körperlicher Einsatz sei ihnen nicht zuzumuten gewesen. «Wir Richter haben die Bilder gesehen. Sie sind schwer erträglich. Das Gericht ist klar zum Schluss gekommen, dass die Polizisten richtig gehandelt haben», sagt der Richter abschliessend. Damit ist die Verhandlung beendet. Vielen Dank für das Interesse.
Freispruch
Beide Polizisten werden freigesprochen.
Urteilseröffnung um 11.30
Schlusswort. «Ich bedauere es. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Ich hätte mich auch gerne bei den Eltern entschuldigt», sagt der erste Beamte.
«Es tut mir leid, dass es so weit kam. Es tut mir leid, dass zwei Menschen sterben mussten. Wir konnten dem Opfer eine Chance auf medizinische Hilfe geben», sagt der zweite Polizist. Um 11.30 Uhr folgt die Eröffnung des Urteils.
«Mein Mandant hat alles richtig gemacht»
Die Verhältnissmässigkeit sei gemäss den Einschätzungen des Beschuldigten zu beurteilen. Der Beschuldigte ging von einem Messer aus. «Der Schusswaffengebrauch erweist sich auch hier als nicht unverhältnismässig.»
Zusammenfassend zeige sich, dass die Staatsanwaltschaft mit der Forderung eines Freispruchs richtig handelt. «Mein Mandant hat alles richtig gemacht.» Mit einem Freispruch soll der Mandant von der belastenden Situation befreit werden. Die Verteidigerin hat geschlossen. Der Staatsanwalt verzichtet auf eine Antwort.
«Unmittelbarer kann eine Lebensgefahr einfach nicht sein»
Es folgt das Plädoyer der Verteidigerin des zweiten Polizisten. Der Beschuldigte sei freizusprechen. Sie schliesse sich den Ausführungen des ersten Verteidigers an. «Es ist sehr wichtig zu erkennen, dass meinen Mandanten keine Schuld trifft», so die Verteidigerin. Es liege ganz offensichtlich eine Rechtfertigung vor. «Wird jemand ohne Recht angegriffen, ist der Angegriffene sowie jeder andere berechtigt, den Angriff abzuwehren», sagt die Verteidigerin.
Die Polizisten wurden Zeugen, wie eine Frau umgebracht wird. «Mein Mandant musste die entsetzliche Situation erfassen», sagt sie. Wie im Blutrausch habe der Täter ausgesehen. Trotz den ständigen Rufen kniete der Täter wieder auf das Opfer. Die Gefahr für das Opfer sei unmittelbar gewesen. «Das Opfer lag schwer verletzt und wehrlos auf dem Boden. Unmittelbarer kann eine Lebensgefahr einfach nicht sein.» Zwar sei das mildeste Mittel zu wählen. «Es ist kein anderes Mittel wirkungsvoll. Es musste schnell gehen. Es gab auch keine Zeit mehr. Die brutale Tötung des Opfers war in vollem Gange», so die Verteidigerin. Auch die Zahl der Schüsse war verhältnismässig. «Trotz Schussabgabe machte er weiter und liess nicht ab», sagt sie.
«Diese beiden Herren haben korrekt gehandelt»
Die Polizisten sahen sich gezwungen zu handeln. Auch reagierte der Täter wiederholt nicht auf Zurufe. «Ich bin vollends der Überzeugung, dass die Notwehrhilfe gegeben ist», so der Verteidiger. Wer nach dem Gesetz handelt, handelt rechtmässig. «Eine andere Option als den Einsatz der Schusswaffe gab es nicht.» Eine körperliche Reaktion wäre zu gefährlich gewesen. Wegen des Zustands des Täters, des engen Raums sowie des vielen Blutes. «Man entwickelt in einem solchen Zustand unglaubliche Kräfte, die kaum zu bändigen sind», so der Verteidiger. «Es ist gar nicht vorzustellen, wenn der Täter im Wahn die Waffe entrissen hätte.»
Es seien verantwortungsvolle Polizisten. «Sie haben diesen Einsatz nicht gesucht. Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen und angemessen gehandelt. Sie wollten das Leben der Frau retten. Sie haben sich innert Sekunden zum Schusswaffeneinsatz entschieden.» Es wurde zutreffend und rechtmässig entschieden, die Waffe zu gebrauchen. «Die Beamten sind deswegen freizusprechen», sagt der Verteidiger. «Diese beiden Herren haben korrekt gehandelt.» Der Verteidiger hat geschlossen.
«Es war das einzige Ziel meines Klienten, den Angriff zu stoppen»
Dass die Frau nicht verletzt wurde, zeigt, dass es darum ging, das Leben der Frau zu schützen. Es wurde mehrfach geschossen. «Aber nur solange, bis sich eine Wirkung zeigte.» Der Schusswaffengebrauch war das einzig effektive Abwehrmittel, unterstreicht der Verteidiger. «Ich gehe nach all meinen Kenntnissen und den Untersuchungen, den Aussagen der Berichte soweit: Der Schusswaffeneinsatz war alternativlos.» Es liege eine Notwehrhilfe zum Schusswaffengebrauch vor. «Das Bundesgericht hat sich in einem Entscheid von 2019 zur Thematik vorsätzliche Tötung/Notwehrexzess geäussert. Die allfällige Berechtigung zum Waffengebrauch sagt nichts darüber aus, wie die Waffe einzusetzen ist. Der lebensgefährdende Einsatz ist aber dann gerechtfertigt, wenn der Abwehrerfolg nicht eingeschränkt werden kann.»
Gemäss der Einvernahme haben die ersten Schüsse nichts bewirkt. Man hat aber sofort mit dem Schiessen aufgehört, als der Täter zusammensackte. «Es war das einzige Ziel meines Klienten, den Angriff zu stoppen.»
«Die Angemessenheit der Abwehr ist aufgrund der Situation zu beurteilen»
Der Verteidiger stützt sich auf das Prinzip der Notwehrhilfe. Die Notwehrhilfe steht den Polizisten zu. Notwehrhilfe sei jeden Dritten zur Verfügung gestellt. Die Angemessenheit misst sich an der Verhältnismässigkeit. «Die Angemessenheit der Abwehr ist aufgrund jener Situation zu beurteilen, in der man sich befindet», so der Anwalt mit Verweis auf einen Bundesgerichtsentscheids. Auch hier werde erwähnt, dass man mit Bezug auf die Situation entscheiden muss. «Das Notwehrrecht gibt nicht nur das Recht, sich mit gleichen Mitteln zu wehren, sondern mit solchen die eine effektive Abwehr ermöglichen», wird ein weiterer Entscheid zitiert. Die beiden Beamten haben eine bereits schwer verletzte Person sowie einen äusserst brutalen Angriff angetroffen. «Es ging ihnen nur darum, den Angriff zu stoppen und das Leben zu retten, was leider nicht gelungen ist.» Sie haben aber versucht, das Leben zu schützen. Das Handeln ging um Abwehr. «Es gab und gibt keinen Vorsatz für versuchte Tötung oder schwere Körperverletzung. Das gibt es subjektiv nicht», so der Anwalt. Es liege auch kein Notwehrexzess vor. «Die Abwehr richtete sich ausschliesslich gegen den Angreifer.» Das Opfer wurde nicht getroffen und auch nicht verletzt.
«Vergleichsweise hohe Konzentrationen von Kokain»
«In dieser Situation gab es meiner Meinung nach kein anderes Mittel aufgrund der Gesamtsituation und wegen der Warnung bezüglich des Messers. Der junge Mann war im Rausch und schlug auf die Frau ein. Hätten wir versucht, den Mann mit Körpergewalt zu bändigen, wäre es sehr gefährlich geworden für uns», zitiert der Anwalt die Einvernahme. «Pfefferspray war sicher keine Option», sagt er. Ganz im Gegenteil.
Die toxikologischen Untersuchen haben ergeben, dass der Täter mehrere Medikamente und Drogen intus hatte. «Es wurde eine vergleichsweise hohe Konzentrationen von Kokain sowie ein Neuroleptikum mit zwanghaftes Verhalten als Nebenwirkung festgestellt», wird der Bericht zitiert. Im Austrittsbericht der psychiatrischen Klinik in Wil SG wird von einem labilen Zustand gesprochen. D. habe die Klinik aus Protest verlassen. Es bestanden gemäss des Berichts aber keine Hinweise auf Gewalttätigkeit.
«Es bot sich ein Bild des Schreckens»
Der Verteidiger verlangt einen Freispruch. «Das Geschehen und die Verhandlung ist eine enorme Belastung für meinen Klienten», sagt er. Sein Klient bedauert, dass D. zu Tode kam. Die Polizisten wollten aber den Täter stoppen. Er beruft sich auf die Notwehrhilfe. «Um sich für den Beruf Polizist oder Polizistin zu entscheiden, braucht es Mut», zitiert der Anwalt die Website der Stadtpolizei St. Gallen. Der Beruf berge Herausforderungen, und diese Herausforderungen brauchen Mut. «Was die Beamten sich am 2. September 2020 stellen mussten, ist undenkbar», sagt der Anwalt. Nur schon die Bilder in den Akten seien schwer zu ertragen. Im Nachhinein hat man alle Unterlagen, doch in der Situation hat man keine Zeit, viel nachzudenken. «Es bot sich ein Bild des Schreckens», sagt der Anwalt. Es stellen sich sofort viele Fragen. «Aber keine Zeit für Antworten», sagt er. «Sie handelten, um ein Leben zu retten», so der Verteidiger.
Die Verhandlung wird fortgesetzt
Der erste Verteidiger erhält das Wort.
Kurze Pause
Der Staatsanwalt hat geschlossen. Das Wort wird nach einer kurzen Pause von zehn Minuten der Verteidigung übergeben.
«Das Handeln der Polizisten war proportional»
Nun wird die Notwehrhilfe erläutert. «Im Zeitpunkt der Schussabgabe bestand keine Gefahr gegenüber den Polizisten», sagt der Staatsanwalt. Deshalb wird das Prinzip der Notwehrhilfe angewendet. Jeder wäre berechtigt, den Angriff zu unterbinden. «Die Polizisten schossen auf D., als er auf die hilflose Frau einschlug», sagt der Staatsanwalt. Deshalb handelt es sich um Notwehrhilfe. Es stellt sich die Frage, ob die Hilfe angemessen war. Die Proportionalität sei gewahrt gewesen, da man mit der Schussabgabe das Leben der Frau schützen wollte. «Das Handeln der Polizisten war proportional», sagt der Staatsanwalt. Die Polizisten durften davon ausgehen, dass D. die Frau umbringen wollte. Es sei massgeblich, was der Polizist von der Sachlage halten muss. Auch der Gebrauch der Schusswaffe sei gerechtfertigt. Die Frage ist, ob die Polizisten ein milderes Einsatzmittel hätten verwenden können als Körpergewalt.
Die Polizisten hätten davon ausgehen können, dass ein Messer in der Nähe war. Wegen der engen Lage und des vielen Bluts hätte es gefährlich werden können für die Polizisten. «Die Beurteilung des Raums, die extreme Gewalt von D. sowie die Dringlichkeit müssen in Betracht gezogen werden. Das Gericht muss beurteilen, ob die Schussabgaben gerechtfertigt waren», sagt der Staatsanwalt. Ist es gerechtfertigt, dann sind die Beamten freizusprechen. Wenn nicht, sind die Beamten zu verurteilen.
Unklar, wer den tödlichen Schuss abgab
Gemäss den Aussagen der Polizisten haben beide unabhängig voneinander sich entschlossen, zu schiessen. Es handelt sich um eine mehrfache schwere Körperverletzung. Die Ursprungswaffe des tödlichen Schusses konnte nicht festgestellt werden. Bei jedem Polizist ist aufgrund «in dubio pro reo» davon auszugehen, dass er nicht den tödlichen Schuss abgegeben hat. Die versuchte Tötung ist erfüllt, da man auf den Oberkörper gezielt hat.
Es ist nicht klar, wann der tödliche Schuss fiel. Es ist denkbar, dass der erste Schuss der tödliche war. Die nachfolgenden Schüsse wären dann untaugliche Versuche der schweren Körperverletzung. Auch das wird unter Strafe gestellt.
Ein Schuss war sofort tödlich
Das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin wird erläutert. L.D. wurde von zehn Schüssen getroffen. Ein Schuss, der den Hinterkopf traf, war sofort tödlich. Das Opfer wurde nicht getroffen. Schnittverletzungen durch ein Messer wurden nirgends festgestellt. Welcher Schütze für welche Verletzungen zuständig ist, kann nicht zugeordnet werden. Insgesamt 14 Hülsen wurden in der Wohnung gefunden.
Aufgrund aller Gutachten ereignete sich der Tathergang so: Um 12.13 Uhr wurden die Beamten zur Speicherstrasse gerufen. Um 12.16 Uhr trafen die Beamten ein. Um 12.17 Uhr wurde eine Ambulanz aufgeboten. Nach 19 Sekunden folgte ein Funkspruch mit «Notruf!». 13 Sekunden später wird ein Schusswechsel bestätigt. Es wird wiederholt, dass aufgrund des Schepperns in der Küche davon ausgegangen wurde, dass L.D. ein Messer holt.
«Es ging darum, das Töten zu stoppen»
Es sei alles so schnell gegangen. «Man hat nonstop den Mann angeschrien, er solle rauskommen», wiederholt der Staatsanwalt. Man hat sich dazu entschieden, die Dienstwaffe einzusetzen, um der Frau das Leben zu retten. Wegen den Verhältnissen gab es keine andere Möglichkeit. Hätte man versucht, den Mann mit Körpergewalt zu stoppen, wäre es gefährlich gewesen. «Es ging darum, das Töten zu stoppen», sagt der Staatsanwalt. Ein Polizist meint, er habe L.D. einmal vorher gesehen, das war aber lange her.
«Messer! Messer!»
Auch die zweite Einvernahme wird geschildert. Aufgrund der komplizierten Lage, konnte nicht erkannt werden, ob ein Messer im Spiel war. Wegen der Geräusche «des Saftens», ging man aber davon aus, dass es ein Messer war. Keine andere Einsatzmittel seien zur Diskussion gestanden.
Die Einvernahme des zweiten Polizisten wird rekapituliert. «Es war ein riesen Chaos in der Wohnung», wird der Beamte zitiert. Der erste Polizist hat «Messer! Messer!» gerufen und zog sich zurück. Erst dann sah er den Mann. «Wenn man jetzt nichts macht, wird er die Frau umbringen», sagt er. Die Schüsse haben zuerst keine Wirkung gezeigt. Erst nach mehreren Treffern sank der Mann zusammen. «Wie ein Wahnsinniger hat er auf die Frau eingeschlagen.» Anschliessend haben sie bei der Rettung geholfen, bis sie auf den Posten mussten. Taser hatten sie nicht dabei. Ein Messer habe er nicht gesehen, aber einen massiven Kochtopf.
«Der Mann war wild entschlossen, die Frau zu töten»
Die Einvernahme der Beamten wird ebenfalls geschildert. D. habe nicht auf die Rufe der Polizisten reagiert. «Der Mann mit nacktem Oberkörper habe wie im Blutrausch gewirkt», zitiert der Staatsanwalt die Einvernahme. Nach dem Schusswechsel habe man per Funk um Unterstützung gebeten. Man habe so lange geschossen, bis der Mann aufhörte. «Der Mann war wild entschlossen, die Frau zu töten», steht in der Einvernahme.
Die Situation, die sich präsentierte, habe die Beamten zum Schiessen gezwungen.
«Es besteht die Möglichkeit auf Verurteilung sowie für einen Freispruch»
Die Befragung ist abgeschlossen. Es folgen die Plädoyers. Der Staatsanwalt begründet die Anklage. Es bestünden rechtlich schwierige Begründungen in einem solchen Fall. Deshalb wurde Anklage erhoben. «Es besteht die Möglichkeit auf Verurteilung sowie auf einen Freispruch», sagt der Staatsanwalt. Mit dem Alternativantrag auf Freispruch will die Staatsanwaltschaft die rechtlichen Überlegungen dem Gericht präsentieren.
Nun wird der Ablauf des Tathergangs durch die Staatsanwaltschaft geschildert. Eine Frau meldet einen Streit in der Speicherstrasse. Im Hintergrund hörte man Geschrei. Irgendwie musste ein Mann in die Wohnung geraten sein.
Der Funkverkehr der Polizei wird ebenfalls geschildert. Um 12.17 Uhr wurde der Schusswechsel gemeldet. Man habe eine männliche Person angetroffen, der wie wild auf eine Frau einschlug. «Man habe schiessen müssen», zitiert der Staatsanwalt den Funkverkehr.
«Es gab keine andere Lösung»
Der Einsatz von Pfefferspray stand zu keinem Zeitpunkt zur Frage. «Es war eine kleine Wohnung. Dann wäre der Raum kontaminiert», sagt er. Er kann nicht mehr beantworten, wer zuerst geschossen hat. Ob er erklären kann, wieso beide gleich viele Schüsse abgaben? «Ich musste so lange schiessen, bis die Wirkung einsetzt», sagt er. Sein Kollege habe wohl gleich gehandelt.
«Würden Sie im Nachhinein den Einsatz anders gestalten?», fragt der Richter. «Nein, es war der einzige Weg, die Situation zu lösen und der Frau eine Chance geben», sagt der Beamte. Auch wenn es sehr tragisch war, aber in diesem Moment war man dazu gezwungen. «Es gab keine andere Lösung», sagt er.