Kampusch-Biografie: «Nur einer von uns kann überleben»

Aktualisiert

Kampusch-Biografie«Nur einer von uns kann überleben»

Vier Jahre nach ihrer Flucht hat Natascha Kampusch ihre Geschichte aufgeschrieben. Am Mittwoch soll ihre Biografie erscheinen. Die ersten Auszüge sind im Netz bereits vorhanden.

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mit Material von dpa
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Ihr Schicksal sorgte weltweit für Aufsehen: Natascha Kampusch wurde 3096 Tage in einem Kellerverlies gefangen gehalten. In ihrer Biografie erzählt die 22-jährige Österreicherin die Details des Martyriums. Das 284 Seiten lange Werk ist weit mehr als die Reise ins Horrorkabinett eines Psychopathen. Es ist die analytische Beschreibung des Lebens und der Nöte eines jungen Mädchens, das mit Unvorstellbarem konfrontiert wird.

Kampusch steht in ihrem Buch «3096 Tage» als starke, wenn auch distanzierte Ich-Erzählerin im Mittelpunkt und löst sich damit aus der Opferrolle. Damit reisst die junge Frau die Deutungshoheit über die in aller Welt bekannte Geschichte wieder an sich. Neue Erkenntnisse, nach denen der «Fall Kampusch» nochmals aufgerollt werden müsste, enthält die Biografie nicht.

Das Werk in zehn Kapiteln beginnt mit der Schilderung der Kindheit in Wien. Die Eltern trennen sich, der Vater trinkt viel, die gefühlsarme Mutter ist mit dem aufgeweckten Kind überfordert und verteilt Ohrfeigen. Nur die Grossmutter gibt der kleinen Natascha Aufmerksamkeit und eine Heimat.

«Wirst du mich vergewaltigen?»

«Habe ich geschrien? Ich glaube nicht», schreibt Kampusch über den 2. März 1998. An jenem Tag kann Wolfgang Priklopil die unsichere und aus Frust dick gegessene Zehnjährige auf dem Schulweg leicht in seinen Transporter ziehen. Kampusch hat furchtbare Angst. In Passagen, die die «Bild»-Zeitung veröffentlicht, beschreibt die 22-Jährige ihre ersten Gedanken: «Reden. Du musst mit ihm reden. Aber wie? Wie spricht man einen Verbrecher an?», schreibt sie im ersten Kapitel «So wurde ich entführt». «Aber natürlich bekam ich keine Antwort. Stattdessen befahl mir der Mann barsch, ruhig zu sein, dann würde mir auch nichts geschehen. ‚Werde ich jetzt missbraucht?', fragte ich ihn als Nächstes. Diesmal bekam ich eine Antwort. ‚Dazu bist du viel zu jung', sagte er. ‚Das würde ich nie tun.'»

Peiniger und Bezugsperson

Damit beginnt das Grauen im Fünf-Quadratmeter-Verlies mit ständig klappernder Belüftung, Licht nach der Zeitschaltuhr und Gegensprechanlage, damit ihr Kidnapper jede Regung vom Haus aus überwachen kann. Er gibt ihr mit «Bibiana» einen neuen Namen und versucht, ihr altes Leben auszulöschen. «Er sah mich dabei an, wie ein stolzer Besitzer seine neue Katze betrachtet – oder schlimmer: wie ein Kind ein neues Spielzeug», schreibt Kampusch. «Ich flehte ihn an, mich gehen zu lassen. Doch es war zwecklos. (…) Er erklärte mir, dass er nun nach Wien fahren müsse, um mir aus seiner dortigen Wohnung eine Matratze zu holen. Ich hätte alles getan, damit er blieb oder mich mitnahm: alles, nur um nicht allein zu sein.»

Eindrücklich schildert Kampusch den absurden Alltag mit ihrem Peiniger, der gleichzeitig die einzige Bezugsperson ist. Das einsame Kind spielt mit ihm «Mensch ärgere dich nicht» und bittet um einen Gutenachtkuss. Er bringt ihr Fertiggerichte, Bücher und Videos, feiert mit ihr Weihnachten und will kuscheln. Dann lässt er sie wieder tagelang allein oder schlägt sie brutal zusammen. Als sie zur Frau wird, versucht er, sie zur hörigen Sklavin zu erziehen.

«Die Gefangenschaft steckte in mir»

Mit der seelischen Abhängigkeit lockert sich ihr körperliches Gefängnis: Mit den Jahren lässt Priklopil das Mädchen immer öfter im Haus arbeiten und unternimmt sogar kurze Ausflüge. Aber nur unter strenger Überwachung und Drohung, alle zu töten, wenn sie um Hilfe ruft.

Dazu ist sie sowieso nicht mehr in der Lage: «Ich steckte bereits so tief in der Gefangenschaft, dass die Gefangenschaft bereits in mir steckte.»

In einem Tagebuch schreibt sie regelmässig über die Misshandlungen: «Brutale Tritte mit dem Knie in Bauch und Genitalbereich (wollte mich zum Knien bringen). Sowie auf die untere Wirbelsäule. (...) Dann Dunkelhaft ohne Luft und Essen», kritzelt sie heimlich am 24. August 2005.

Psychologisch komplex schildert die junge Frau die facettenreiche Beziehung zum Täter, in der nichts schwarz und weiss, sondern vieles grau ist. «Wäre ich ihm ausschliesslich mit Hass begegnet, hätte mich dieser Hass so zerfressen, dass ich nicht mehr die Kraft gehabt hätte, zu überleben.»

Der totalen Kontrolle entziehen

Dennoch versucht sie, sich seiner totalen Kontrolle immer wieder zu entziehen - inklusive gescheitertem Suizidversuch. Um die Gewaltausbrüche zu überstehen, lernt sie, sich dabei innerlich von ihrem Körper zu lösen: «Ich war weit weg.» Noch heute spüre sie emotional nichts, wenn sie daran zurückdenke.

Ganz kann der Täter die junge Frau nicht brechen. «Du hast uns in eine Situation gebracht, in der nur einer von uns beiden überleben kann», sagt sie ihm Wochen vor der Flucht. In einem unbemerkten Moment rennt sie in die Freiheit. «Mein Name ist Natascha Kampusch. Sie müssen von meinem Fall gehört haben», sagt sie den ankommenden Polizisten. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Priklopils «Bibi» wieder ihren echten Namen ausspricht.

Trotz des weltweiten Medienhypes will sie nicht untertauchen: «Niemals würde ich jetzt, nach meiner Befreiung, dieses wichtigste Gut aufgeben: meine Identität.»

TV-Tipp:

Am Montagabend tritt Natascha Kampusch wieder in den Medien auf. Zum ersten Mal seit Monaten, gibt sie ein Fernsehinterview für die ARD über die Zeit ihrer Gefangenschaft. Um 22.45 Uhr wird das Gespräch mit Talkmaster Reinhold Beckmann ausgestrahlt.

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