«Unsensible Beamte»Opfer von sexuellen Übergriffen erheben Vorwürfe gegen Polizei
Wer nach einem sexuellen Übergriff Anzeige erstattet, muss sich Befragungen der Polizei stellen. Viele Betroffene sind mit dem Prozess nicht glücklich. Die Polizeien arbeiten daran – eine einfache Lösung gibt es nicht.
- von
- Christina Pirskanen
- Daniel Graf
Darum gehts
Die 27-jährige S.P. wurde vor Jahren Opfer einer Vergewaltigung im Kanton Luzern. Sie zeigte den ihr unbekannten Mann bei der Luzerner Polizei an. «Es folgten drei harte Wochen, in denen ich ständig zum Arzt und der Kriminalpolizei musste», erzählt die 27-Jährige.
Ihre Aussagen zum Vorfall musste P. bei der Kripo mehrere Male wiederholen. «Das war nicht gerade einfach, ich stand unter solch einem Schock», so die 27-Jährige. Trotz Anzeige und schwierigen Einvernahmen konnte der Täter nie gefasst werden – die Ermittlungen wurden eingestellt.
Hälfte der Befragten nicht zufrieden
Wie P. ergeht es vielen anderen auch. Eine Umfrage im Auftrag der Kantonspolizei Bern hat ergeben, dass die Hälfte der 16 befragten Betroffenen von sexualisierter Gewalt mit dem Verhalten der Polizeibeamten nicht oder nur mässig zufrieden war, wie die «Berner Zeitung» (Bezahlartikel) berichtet.
Die Ersteller der Befragung schreiben im Bericht, dass die Polizei einen verbesserten Umgang mit den Opfern anstreben sollte, gerade weil diese Gruppe potenziell sehr vulnerabel sei. «Es sollte insbesondere vertieft untersucht werden, was zu der Unzufriedenheit der Opfer führt und wie diese verhindert werden kann», heisst es weiter. Auch die Kapo Bern selbst hält fest, dass «weitere Sensibilisierungsmassnahmen» nötig seien.
Juso-Präsidentin Jansen: «Weit von einer Lösung entfernt»
Juso-Präsidentin Ronja Jansen ist von den Ergebnissen der Befragung nicht überrascht: «Ich kenne mehrere Personen, die unsensible Umgangsweisen der Polizei geschildert haben. Oftmals sind die Opfer hochtraumatisiert und müssten eine umfangreiche Betreuung erhalten, denn solche Situationen haben das Potenzial, erneut ein Trauma auszulösen.» Zudem gebe es auch viele systematische Mängel im Ablauf des Justizsystems.
Jansen ist überzeugt, dass die Problematik nationale Tragweite habe. Die Mängel führten dazu, dass viele Betroffene auf eine Anzeige verzichteten und somit eine extrem hohe Dunkelziffer bestehe. «Es bräuchte tiefgreifende Veränderungen», sagt Jansen. So müssten etwa Erstbetreuer und Erstbetreuerinnen, Polizisten und Polizistinnen, aber auch das Gesundheitspersonal viel besser geschult werden. «Wir sind noch weit von einer Lösung des Problems entfernt.»
Der ehemalige Untersuchungsrichter und SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor sagt, die Verfolgung von Straftaten gegen die sexuelle Integrität falle in die Zuständigkeit der Kantone. «Einige sind sehr gut organisiert, sei es bei der Staatsanwaltschaft oder der Polizei mit spezialisierten Abteilungen. Andere etwas weniger.» Addor appelliert an die kantonalen Polizeibehörden, die Ergebnisse der Umfrage aus Bern dazu zu nutzen, das bestehende Dispositiv zu überprüfen und Verbesserungspotenzial zu finden und zu nutzen.
Kantone verpflichten sich zu Aus- und Weiterbildungen
Florian Düblin ist Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Er sagt, das Thema sei seit Jahren auf der Agenda. Erst letzten April habe sich die KKJPD im Rahmen der Roadmap gegen häusliche Gewalt dazu bekannt, weiterhin alles zu tun, um den Umgang der Mitarbeitenden von Polizei und Staatsanwaltschaft mit Opfern in Aus- und Weiterbildungen zu verbessern.
«Letztlich ist es ein systemisches Problem: Die Ermittlungsbehörden stehen immer in einem Spannungsfeld», sagt Düblin. «Auf der einen Seite steht das Ziel der Ermittlungen, belastbare Aussagen für die Strafverfolgung zu erhalten. Dazu ist es notwendig, gewisse Fragen hartnäckig und teils auch mehrfach zu stellen. Auf der anderen Seite steht das Empfinden des Opfers, dem die Beamten mit möglichst empathischem Vorgehen Rechnung tragen wollen.» Eine einfache Lösung gibt es für Düblin kaum: «Was die Kantone aber tun können und auch tun, ist, stetig am Thema zu arbeiten und Verbesserungen anzustreben.»