Trauer: «Papa hätte so nicht leben wollen»

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Trauer«Papa hätte so nicht leben wollen»

Muriel Urech Tsamis (41) ist Mutter von vier Kindern – und Witwe. Vergangenen November starb ihr Mann völlig überraschend an einer Hirnblutung. Eltern sollen Inseln schaffen, um zu trauern, sagt eine Expertin.

von
Anja Zingg
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Vergangenen November starb Muriel Urech Tsamis’ (41) Mann Dimitris überraschend an einem Hirnschlag. 

Vergangenen November starb Muriel Urech Tsamis’ (41) Mann Dimitris überraschend an einem Hirnschlag.

zvg privat
17 Jahren waren die zwei ein Paar. 

17 Jahren waren die zwei ein Paar.

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Tsamis ist Mutter von vier Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren. Auf momof4.ch schreibt Tsamis über ihr Leben. «Der älteste Sohn möchte darin nicht vorkommen, Bilder von ihm veröffentliche ich darum nicht.»

Tsamis ist Mutter von vier Kindern im Alter von 4 bis 17 Jahren. Auf momof4.ch schreibt Tsamis über ihr Leben. «Der älteste Sohn möchte darin nicht vorkommen, Bilder von ihm veröffentliche ich darum nicht.»

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Darum gehts

  • Muriel Urech Tsamis (41) ist Mutter von vier Kindern zwischen 4 und 17 Jahren.
  • Vergangenen November starb ihr Mann völlig unerwartet.
  • Die Vierfachmama geht offen mit dem Verlust um.
  • Trauer sei nach wie vor ein Tabu in der Schweiz, so eine Expertin.

Muriel Urech Tsamis kann sich noch an alle Details jenes Tages im vergangenen November erinnern. Zehn Monate sind seither vergangen. «Am Morgen haben wir noch telefoniert. Ich rief ihn an, weil ich meine Tasche vergessen hatte», erzählt die vierfache Mutter. Ihr Mann, selbstständig mit einem Limousineunternehmen, habe ihr die Tasche an den Bahnhof bringen wollen. «Dort habe ich gewartet und gewartet, aber er kam nicht. Dann musste ich auf meinen Zug.» Sie habe sich Sorgen gemacht, diese aber abgetan. «Ich dachte mir, es habe Verzögerungen bei der Fahrzeugübergabe mit dem Fahrer gegeben.»

«Mama, etwas stimmt nicht»

Auch am Nachmittag erreichte sie ihren Mann nicht. «Kurz darauf hatte meine Tochter die Schule aus und ging nach Hause. Ich rief sie an und fragte, ob Papa da war. Doch er war nirgends.» Dann habe die Tochter das Auto in der Einfahrt gesehen und gesagt. «Mama, irgendetwas stimmt nicht, Papa parkiert nie so komisch.»

Tsamis versuchte ihre Tochter zu beschwichtigen, gleichzeitig wuchs die Angst in ihr. «Ich war noch etwa zehn Minuten von zu Hause entfernt, als ich das Telefon auflegte. Ein paar Minuten später rief meine Tochter erneut an. Sie sagte, dass ein Mann an der Haustür stehe. Da wusste ich, es ist etwas Schreckliches passiert.»

Trauerbewältigung

Proaktivität aus dem Umfeld helfe sehr, sagt Annyett König. Die ausgebildete Trauerbegleiterin ermutigt das Umfeld, zu handeln. «Trauernde haben oft schlichtweg keine Energie, sich bei jemandem zu melden. Vorbeigehen, etwas Essen bringen oder mal einen Ausflug mit den Kindern machen kann da sehr helfen.»König arbeitet seit mehr als 20 Jahren auf der Kinderintensivstation, nebenbei engagiert sie sich im Verein Familientrauerbegleitung, wo sie Familien in schwierigen Zeiten berät und begleitet. «Jeder Mensch trauert anders. Es darf nicht gewertet werden, wie jemand mit einem Verlust umgeht», betont die Expertin.

König hat immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Offenheit hilft. «Es ist vor allem für die Kinder wichtig, dass man ihre Fragen ehrlich, aber altersgerecht beantwortet.» Zum Beispiel werden Kinder immer wieder von Schuldgefühlen geplagt. «Den Kindern muss klar sein, dass es in Ordnung ist, glücklich zu sein.» Das gelte natürlich auch für den Ehepartner oder die -partnerin.

Generell sei die Verarbeitung der Trauer auch für den Elternteil sehr wichtig. «Es hilft vielen, dass sie eine Aufgabe haben. Die Kinder müssen betreut werden, der Haushalt muss gemacht werden. Diese Strukturen schaffen Halt. Sie vermitteln ein Stück Normalität.» Nichtsdestotrotz sei es wichtig, dass sich Eltern Inseln schafften, um zu trauern. «Der Elternteil hat einen geliebten Menschen verloren. Man muss darauf achten, sich nicht zu verlieren. Denn der Spagat zwischen Papa respektive Mama sein und trauern ist sehr schwierig.»

Bei dem Mann handelte es sich um den Fahrer, an den Tsamis Mann an jenem Morgen die Limousine übergeben wollte. Tsamis, die im Marketing einer grossen Firma arbeitet, raste nach Hause. «An der Haustür erzählte er mir, was passiert war. Mein Mann sei am Morgen zusammengebrochen, quasi in seine Arme. Ich stand da im Eingang unseres Hauses, mit meiner jüngsten Tochter im Arm, und verlor den Boden unter den Füssen.» Sie habe sich an Hoffnung geklammert, dass alles gut kommen werde. Während eine Nachbarin auf die vier Kinder aufpasste, fuhr sie ins Spital.

Keine Hirnströme mehr messbar

Vor Ort erfuhr die 41-Jährige, dass ein Blutgefäss im Hirn geplatzt war und ihr Mann sehr viel Blut im Kopf hatte. «Sie verlegten ihn in ein künstliches Koma. Seine Körpertemperatur wurde auf 33 Grad gesenkt.» 14 Tage lag er im Koma. «Dann wurden seine Hirnströme nochmals gemessen. Sie zeigten kaum noch Aktivität.» Tsamis und ihre Kinder trafen den schwierigen Entscheid, die lebenserhaltenden Maschinen abzustellen. «Dimitris war so ein aktiver Mensch. Mir und den Kindern war klar, der Papa hätte so nicht leben wollen.»

«Am Montag wuden die Maschine abgestellt. Ohne sie war klar, dass er die Woche nicht überleben wird.» Am Mittwoch seien Familie, Freunde und auch ihre Kinder vorbeigekommen, um sich zu verabschieden. «Abends blieb ich noch mit einer Freundin im Spital.» Sie seien kurz rausgegangen, um einen Kaffee zu holen. «Als wir zurückkamen, hatte er aufgehört zu atmen.»

Für Tsamis war aber klar, dass ihr Mann noch nicht ganz fort war. «Gemäss der griechisch-orthodoxen Kirche ist die Seele des Toten noch 40 Tage auf der Erde und geht an alle Lebensstationen zurück. Daran haben wir uns festgehalten und uns vorgestellt, dass Papa gerne das Meer, den Zugerberg, Seen, Autos und uns hatte. So fühlten wir uns ihm nahe.»

Leben zwischen Schweiz und Griechenland

Muriel Urech Tsamis und ihr Mann Dimitris lernten sich vor rund 20 Jahren in Deutschland, nahe der Schweizer Grenze, kennen und wanderten später in sein Heimatland Griechenland aus. Gemeinsam führten sie ein Reisebüro und wurden Eltern von drei Kindern. «Mit der Einschulung unseres Ältesten kehrten wir in die Schweiz zurück. Im Kanton Schwyz übernahmen wir die Führung eines Hotels.»

Trauma während der Schwangerschaft

2016 wurde Tsamis erneut schwanger. Doch die Schwangerschaft war keine glückliche Zeit: «Ich hatte einen Konflikt mit einem Mitarbeiter. Plötzlich rastete er aus und griff mich an. Er hat mich gewürgt und genötigt

Nach dem Angriff sei es ihr körperlich und psychisch schlecht gegangen. «Ich fiel in ein Loch. Ich hatte starke Blutungen, machte mir Vorwürfe und riesige Sorgen um mein ungeborenes Baby.» Die Ärzte empfahlen ihr starke Psychopharmaka. «Doch durch die Medikamente hätte ich das Baby verlieren können. Ich entschied mich dagegen.»

Die ganzen neun Monate litt Tsamis an einer posttraumatischen Belastungsstörung, kam fast nicht aus dem Bett. Menschenansammlungen ertrug sie nicht. «Mein Mann war in dieser Zeit eine riesige Stütze. Er schaute auf die Kinder und sorgte sich um mich.»

Die Wende kam mit der Geburt

«Ich fürchtete mich sehr vor den Veränderungen nach der Geburt. Wie sollte ich in meinem Zustand für ein Neugeborenes sorgen?» Vorsorglich habe sie sich darum für eine stationäre Mutter-Kind-Klinik angemeldet. Doch die Geburt habe etwas in ihr ausgelöst. «Ich kann es nicht erklären. Aber nach der Geburt änderte sich mein Gemütszustand schlagartig. Ich konnte mein Trauma überwinden.» Den Aufenthalt in der Klinik trat sie nicht an.

Stattdessen nutzte sie die neu gewonnene Energie, um gegen ihren Angreifer auszusagen. Das Verfahren zog sich hin, erst im Oktober 2019 wurde es abgeschlossen. «Er wurde verurteilt und musste 500 Franken zahlen. Eine lächerliche Strafe.» Auf der anderen Seite sei sie froh gewesen, mit der Sache endlich abschliessen zu können. «Mein Mann und ich sagten uns nach dem Urteil: Wir schauen nach vorne. 2020 wird unser Jahr.» Einen Monat später war er tot. Und Muriel allein mit vier Kindern.

Offenheit hat ihr geholfen

Die ersten Monate habe sie einfach funktioniert, erzählt die Witwe. «Mein Umfeld war eine grosse Stütze. Meine Gefriertruhe war unter anderem immer voll mit Essen von Freunden, damit ich nicht kochen musste.»

Tsamis ist überzeugt, dass Offenheit für sie der richtige Weg ist. «Ich konnte immer sehr direkt mit meinen Freunden über meine Trauer sprechen. Sie waren eine grosse Stütze. Aber es gab auch Tage, da konnte ich nur weinen. Er war die Liebe meines Lebens. Ich habe meinen besten Freund verloren.»

Die Urne steht noch zu Hause

Auch ihren Kindern gegenüber spricht Tsamis den Verlust sehr offen an. «Ich habe zum Beispiel ein Album von der Trauerfeier gemacht. Meine jüngste Tochter hat sich erst kürzlich das Album wieder angeschaut.» Die Urne steht zurzeit noch im Haus der Familie Tsamis. «Eines Tages werden wir vielleicht einen Teil der Asche im griechischen Meer verstreuen. Denn ein Stück von ihm gehört nach Griechenland.» Doch momentan sei dies noch nicht geplant. «Dafür bin ich noch nicht bereit. Wir sind immer noch am Abschiednehmen.»

Muriel Urech Tsamis bloggt seit mehreren Jahren über ihr Leben als berufstätige Vierfachmama. Ihr sei schnell klar gewesen, dass der Tod ihres Mannes kein Tabu auf ihrem Blog sein soll. www.momof4.ch

Trauerbegleitung

Wenn Familien trauern

Rund 23’000 Familien trauern jährlich um den Vater, die Mutter oder um ein Geschwister oder das eigene Kind. Das schätzt der Verein Familientrauerbegleitung. Der Verein unterstützt Familien bei der Bewältigung ihrer Trauer und beim Umgang mit Verlust. Der Verein ist schweizweit tätig und vermittelt professionelle Trauerbegleiterinnen an Familien.

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