Adria-FährePassagiere beklagen sich über chaotische Rettung
Einsatzkräfte retten mehr als 400 Passagiere von einer brennenden Fähre. Das könnte eine Erfolgsgeschichte sein, doch die Fahrgäste berichten von chaotischen Zuständen.
- von
- P. Santalucia ,
- C. Kantouris und C. Barry ,
- AP
Zunächst gibt es keinen Feueralarm, kein Crewmitglied klopft an die Türen der Gäste. Nur dichter, bitterer Rauch füllt die Kabinen. Er weckt die Passagiere der Adria-Fähre «Norman Atlantic».
In diesem Chaos, mitten auf dem Wasser zwischen dem griechischen Patras und dem italienischen Ancona, fühlen sie sich von der Besatzung vollkommen alleine gelassen, so berichten es Gäste der Fähre nach der dramatischen Rettungsaktion. Instruktionen zur Evakuierung nach Ausbruch des Brandes hätten sie keine bekommen, das Prinzip «Frauen und Kinder zuerst» wurde nicht nur sprichwörtlich über Bord geworfen. Stattdessen begannen die Passagiere, sich um freie Plätze in Rettungsbooten und Hubschrauberkörben zu prügeln.
Kein Respekt vor Kindern
«Jeder dort trampelte auf anderen herum, um in den Helikopter zu kommen», sagt etwa der griechische Lastwagenfahrer Christos Perlis der Nachrichtenagentur AP, nachdem er nach der Brandkatastrophe in Sicherheit ist. Von ähnlich chaotischen Zuständen berichtet Irene Varsioti, ebenfalls aus Griechenland. «Es gab keine Warteschlange oder Ordnung. Es wurde kein Respekt vor Kindern gezeigt.»
Italienische und griechische Hubschrauber haben alle bekannten Überlebenden gerettet – insgesamt 427 Menschen. Auch mindestens zehn Tote wurden auf der «Norman Atlantic» und aus dem Wasser geborgen. Möglicherweise steigt diese Zahl noch, weil keiner genau weiss, wie viele Flüchtlinge illegal mit der Fähre nach Italien übersetzen wollten.
Wie viele Menschen vermisst werden ist unklar
Während Betreiber Anek Lines angibt, 475 Menschen hätten sich auf der Fähre befunden, ist die genaue Zahl der Passagiere unklar. Selbst der italienische Verkehrsminister Maurizio Lupi gibt sich kleinlaut: «Wir können nicht sagen, wie viele Menschen wohl vermisst werden.»
Afrosini Bezati, ebenfalls Truckerin aus Griechenland, berichtet, sie habe Angst gehabt, dass Kollegen in ihren Fahrerkabinen geschlafen hätten und so verschwunden sein könnten. «Ich überlegte, dasselbe zu tun, meinen Raum nach der Dusche zu verlassen und im Laster zu schlafen», sagt sie bei der Ankunft auf dem Luftwaffenstützpunkt Elefsina nahe Athen. Das Problem: Das Feuer brach im Autodeck aus. «Sie waren eingeschlossen und konnten nicht heraus.»
Überhitzungen und Kohlenmonoxid-Vergiftungen
Hunderte Gäste, Besatzungsmitglieder und zwei Hunde wurden von den Decks mit Hubschraubern in Sicherheit gebracht, als unter ihnen die Flammen tobten. Der griechische Passagier Chrysostomos Apostolou beschreibt diese Minuten als ein infernalisches Bild, das so auch der Künstler Dante erschaffen haben könnte. Einige Passagiere erlitten Überhitzungen, andere leichte Kohlenmonoxidvergiftungen.
Angesichts der schwierigen Bedingungen – Sturm, hohe See und Dunkelheit – hat das italienische Militär eine überwiegend positive Bilanz des Rettungseinsatzes gezogen. Marineadmiral Giuseppe De Giorgi bejubelt auch das Verhalten des italienischen Fährkapitäns Argilio Giacomazzi. Der war bis zum Ende der Evakuierung seines Schiffes an Bord geblieben. So etwas war man in Italien nicht unbedingt gewohnt: Noch zu gut ist die Kreuzfahrtschiffskatastrophe vor Giglio im Jahr 2012 mit 32 Toten im Gedächtnis – und Kapitän Francesco Schettino, der eilig das Schiff verliess.
Crew hätte informieren sollen
Giacomazzi sei dagegen ein umsichtiger und gewissenhafter Seemann, sagt seine Tochter Giulia der AP. «Die klassische Geschichte der See», sagt sie im Wohnhaus der Familie in La Spezia. «Der Kapitän ist der letzte, der das Schiff verlässt.»
Die Passagiere sind weniger begeistert von der italienischen Crew. Mehrere sagen nach der Rettung, nur weil andere Gäste an ihre Türen klopften, hätten sie überhaupt gewusst, dass sie aus ihren Kabinen müssen – oder weil sie wegen des Rauchs kaum noch in ihren Unterkünften atmen konnten.
Die italienischen Behörden wollen die Katastrophe auf jeden Fall genau untersuchen. Am späten Montagabend wurde die Unglücksfähre beschlagnahmt. Am Ende muss auch geklärt werden, ob irgendwer strafrechtlich oder mit Schadensersatzklagen belangt wird.