Radikale Ehrlichkeit macht glücklich – stimmt das wirklich?

Immer die Wahrheit sagen und komplett auf Lügen verzichten: Radikale Ehrlichkeit soll zu einem glücklicheren Leben führen. 

Immer die Wahrheit sagen und komplett auf Lügen verzichten: Radikale Ehrlichkeit soll zu einem glücklicheren Leben führen. 

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nie mehr lügenRadikale Ehrlichkeit soll glücklich machen – stimmt das?

Immer sagen, was man denkt und fühlt und dadurch ein erfüllteres Leben führen: Das verspricht das Konzept der radikalen Ehrlichkeit. Das musst du darüber wissen.

Michelle de Oliveira
von

Lügen sind verpönt, und grundsätzlich ist es in unserer Gesellschaft normal, in zwischenmenschlichen Beziehungen bei der Wahrheit zu bleiben – zumindest wenn es um die grossen Themen geht. Aber wie steht es denn um kleine Notlügen im Alltag? Die kennen wir alle, vor allem wenn wir auch Übertreibungen, ironische Bemerkungen und Zynismus dazuzählen. Da sammelt sich doch einiges an: Laut manchen Quellen soll der Mensch durchschnittlich sogar 150- bis 200-mal lügen – pro Tag!

Lügst du regelmässig?

Auch wenn die Zahl vielleicht etwas gar hoch geschätzt ist: Achtet man für eine Weile darauf, wie oft man nicht ganz bei der Wahrheit bleibt, schleicht sich tatsächlich eine beachtliche Anzahl Notlügen ein. Und hier kommt die Gegenbewegung ins Spiel: das Konzept der «radikalen Ehrlichkeit». Es fordert, dass man jede Unwahrheit konsequent vermeidet, immer sagt, was man wirklich denkt und Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen schonungslos teilt.

Bessere Beziehungen dank Ehrlichkeit

Das Konzept geht auf den US-amerikanischen Psychotherapeuten und Autoren Brad Blanton zurück, der zahlreiche Bücher zu diesem Thema verfasst hat. Immer die Wahrheit sagen, kein Filter mehr zwischen Gehirn und Mund, immer raus damit – das ist seine Botschaft. Blanton sagt, dass die kleinen Notlügen unseren Alltag durchdringen und dadurch eine grosse Belastung darstellen würden: Ehen, Beziehungen, Freundschaften und am Ende vor allem wir selbst würden darunter leiden, weil wir nicht ehrlich mit uns sind. Zwar könne radikale Ehrlichkeit andere verletzen, aber langfristig soll sie zu besseren, tieferen Beziehungen führen, verteidigt der Psychologe seine Theorie. 

Radikale Ehrlichkeit soll zu besseren und tieferen Beziehungen führen. 

Radikale Ehrlichkeit soll zu besseren und tieferen Beziehungen führen. 

Pexels/Ron Lach

Der Experte verspricht ein erfüllteres und glücklicheres Leben – vor allem, wenn man ehrlich sei mit sich selbst. Und das ist wohl sogar der schwierigste Teil. Bevor man nun also allen ungefragt und ungeschönt die Meinung ins Gesicht klatscht, sollte man mit der radikalen Ehrlichkeit bei sich anfangen und das eigene Denken und Handeln hinterfragen: Finde ich die Idee der Kollegin wirklich schlechter als meine oder bin ich bloss neidisch? Nervt mich mein Partner gerade tatsächlich oder zettele ich einen Streit an, weil ich aus einem anderen Grund frustriert bin? Sage ich, dass es mir gut geht, weil das so ist, oder weil ich niemanden in eine unangenehme Situation bringen will? Oder finde ich Witze lustig, Aussagen gut oder Handlungen okay, weil ich mit meiner Meinung nicht anecken will? 

In Gruppen fällt es manchmal schwer, die eigene Meinung zu vertreten – oft behält man sie dann lieber für sich oder greift zu einer Notlüge.

In Gruppen fällt es manchmal schwer, die eigene Meinung zu vertreten – oft behält man sie dann lieber für sich oder greift zu einer Notlüge.

Pexels/Matheus Bertelli

Tatsächlich greifen wir oft auf kleine Notlügen zurück, weil wir niemanden brüskieren wollen – also Angst vor Ablehnung haben. Und das kann im Extremfall dazu führen, dass wir uns ständig verstellen und dadurch ein Leben führen, das wir eigentlich gar nicht wollen.

Es lohnt sich also auf jeden Fall, das Augenmerk mal für eine Weile ganz bewusst darauf zu legen, wann du die Wahrheit sagst und danach handelst und wann du dir – vielleicht sogar schon ganz automatisch – mit einer Notlüge behilfst. Und vielleicht kannst du öfter mal die Wahrheit sagen, denn das ist auch Übungssache. Dass es aber eine gute Idee ist, ausnahmslos immer radikale Ehrlichkeit zu leben, bezweifeln andere Fachpersonen. Authentische und ehrliche Beziehungen seien zwar sehr wichtig, aber etwas Radikales sei nicht nötig, so der Tenor.

Keine brutale Ehrlichkeit

Radikale Ehrlichkeit muss nicht unbedingt «brutale Ehrlichkeit» bedeuten. Jemandem zu sagen «Das Kleid, das du trägst, steht dir gar nicht» ist fehl am Platz. Fragt dich aber jemand diesbezüglich nach deiner Meinung, kannst du ehrlich antworten – auch wenn dir das vielleicht nicht leicht fällt.

Genauso, wie wenn dich jemand das nächste Mal um etwas bittet und du überhaupt keine Lust hast. Statt dem Frieden zu liebe Ja zu sagen oder eine Notlüge zu erfinden, versuche es doch mal mit der Wahrheit und lerne, Nein zu sagen: «Es tut mir leid, aber dazu habe ich wirklich gerade gar keine Lust.» Möglicherweise reagiert das Gegenüber erstaunt, aber oft ist das Verständnis gross, wenn man die Wahrheit sagt. Weil es ehrlich ist – und damit authentisch und echt. 

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