Interview zu Leserkommentaren«Rechte äussern sich häufiger als Linke»
Befürworter der Ecopop-Initiative kommentieren auf 20 Minuten deutlich häufiger als Gegner. Experte Thomas Friemel erklärt, woran das liegen könnte.
- von
- Laura Hüttenmoser
Die Leserinnen und Lesern hatten bei den meisten Artikeln von 20 Minuten zur Ecopop-Initiative die Möglichkeit, einen Kommentar zu schreiben. Schliesslich ist eine Diskussion im Vorfeld einer nationalen Abstimmung nötig und wichtig. Betrachtet man die zahlreichen Leserkommentare, fällt jedoch auf, dass diese im Fall von Ecopop sehr einseitig stattfindet. Von zehn Meinungen ist in etwa eine kritisch, die andern neun machen sich für die Initiative stark. Wie ist das zu erklären? In der zweiten Welle der Umfrage von 20 Minuten geben 52 Prozent der Befragten an, gegen Ecopop zu stimmen. Wieso äussern sich diese nicht im Talkback? Dr. Thomas Friemel, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Universität Bremen, hat die Kommentarbereiche verschiedener Schweizer Newsportale untersucht und liefert im Interview Erklärungsansätze.
Herr Friemel, inwiefern spiegeln die Leserkommentare bei einem Massenmedium die öffentliche Meinung?
Die öffentliche Meinung ist nur schwer zu erfassen, selbst für die Wissenschaft. Auch aufwändige und repräsentative Umfragen können von Abstimmungsergebnissen weit abweichen. Das hat man zum Beispiel bei der Anti-Minarett-Initiative gesehen, zu der die Umfragewerte 20 Prozent vom Abstimmungsergebnis abgewichen sind.
Man kann also nicht anhand des Tenors im Kommentarbereich auf die Meinung der Mehrheit schliessen?
Das wäre ein Trugschluss. Die Kommentare sind meist verzerrt in die Richtung von pointierten und teilweise gar extremen Meinungen. Zudem hat jedes Medium eine andere Leserschaft. Eine Umfrage, die wir vor zwei Jahren an der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit 20 Minuten gemacht haben, hat gezeigt, dass die SVP die Partei mit der höchsten Zustimmung unter den 20-Minuten-Lesern ist. Ebenfalls ordnen sich die Verfasser von Leserkommentaren auf einer Skala weiter rechts ein, als diejenigen, die nur Kommentare lesen.
Wieso äussern sich Rechte eher in Kommentarbereichen als Linke?
Dazu gibt es drei Erklärungsansätze:
1. Es ist eine Kompensation. Professionelle Berichterstattung ist neutral und die meisten Medien stehen für Toleranz und Offenheit ein. Wenn ein Leser anderer Meinung ist, «wehrt» er sich im Talkback und versucht der eigenen Meinung Gehör zu verschaffen und andere zu überzeugen.
2. Es ist einfacher, Argumente für «rechte» Vorlagen in Kommentaren zu verfassen. Dabei werden häufig einfachere und plattere Argumente verwendet und immer die gleichen Ängste geschürt. Argumente für Offenheit und Toleranz sind häufig komplexer und differenzierter. Dementsprechend ist auch der Aufwand grösser, einen Kommentar zu schreiben.
3. Die Kommentarfunktion ist ein Ventil für Ansichten, die zwar immer da waren, aber nie eine Plattform hatten. Die Leute können jetzt sagen, was sie schon immer dachten, und sehen sich durch die Kommentare anderer bestärkt. Das kann zu einer ständig zunehmenden Bereitschaft führen, solche Kommentare zu schreiben.
In den Artikeln von 20 Minuten zu Ecopop werden die wenigen Stimmen, die gegen die Initiative sind, mittels Bewertungsfunktion runtergewählt. Kann das ein Grund sein, wieso sich Andersdenkende kaum noch zu Wort melden?
Das ist gut möglich: Wer auf verlorenem Posten steht, spielt das Spiel nicht mehr mit.
Wie beurteilen Sie die Bewertungsfunktion im Kommentarbereich?
Grundsätzlich ist das eine gute Variante, um auszuprobieren, ob sich das System selber reguliert. In den letzten Jahren hat sich aber gezeigt, dass eine ausgewogene Diskussion in Talkbacks kaum möglich ist. Damit haben übrigens die meisten Newsportale zu kämpfen. Die Frage ist: Ist das überhaupt das Ziel, will man das hinbiegen? Wenn man den Ball aus der Hand gibt und die Leute spielen lässt, muss man auch das Ergebnis akzeptieren.
Wieso ist Ihrer Meinung nach eine ausgewogene Diskussion kaum möglich?
Die Leute haben sich an die Kommentarfunktion gewöhnt und trauen sich mehr. Vielleicht hat es eine Richtung angenommen, bei der einigen die Lust vergeht. Es wird schnell beleidigend und kommt selten zu einem richtigen Dialog.
Was erhofft sich denn ein Verfasser eines Kommentars?
Auch das haben wir in der Umfrage untersucht. Wer einen Kommentar schreibt, will die anderen einerseits informieren, andererseits überzeugen.
Denken Sie, das funktioniert?
Nein. Denn wer Kommentare liest, tut das primär zur Unterhaltung und nicht, um sich eine Meinung zu bilden. In manchen Fällen kann es auch zum Gegenteil des gewünschten Effekts kommen. Wer zum Beispiel die zahlreichen Pro-Ecopop-Kommentare liest und gegen die Initiative ist, könnte zum Schluss kommen, dass es jetzt noch wichtiger ist, abstimmen zu gehen.
Wir bitten Sie, im Kommentarbereich über die Aussagen des Interviews zu diskutieren. Argumente für oder gegen die Ecopop-Initiative werden zu diesem Artikel nicht veröffentlicht.

Dr. Thomas Friemel ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Universität Bremen.