«Tunesien» in ChinaSchwangere Verkäuferin löst Krawalle aus
In China brodelt es: Während Tagen kam es im Süden des Landes zu Krawallen zwischen Arbeitern und der Polizei. Auslöser war das Vorgehen gegen eine schwangere Strassenverkäuferin.
- von
- pbl
Die südchinesische Provinz Guangdong ist eine Export-Hochburg des Landes. In unzähligen Fabriken werden Produkte für den Weltmarkt hergestellt, meist von Wanderarbeitern, die unter prekären Bedingungen zu miesen Löhnen schuften müssen. Am Wochenende entlud sich der Frust der Unterdrückten in mehrtägigen Strassenkämpfen in der Stadt Zengcheng. Bilder des Hongkonger Fernsehens zeigten Wanderarbeiter, die Regierungsgebäude und Polizeiautos in Brand setzten. Polizisten wurden mit Steinen und Flaschen beworfen.
Die Polizei antwortete mit Tränengas, 25 Personen wurden nach offiziellen Angaben verhaftet. Am Dienstag sorgte ein massives Aufgebot der Sicherheitskräfte für Ruhe in der Stadt, die rund eine Fahrstunde entfernt liegt von der Provinzmetropole Guangzhou, dem früheren Kanton. Doch unter der Oberfläche brodelt es weiter. «Wir sind wütend», sagte ein nicht genannter Wanderarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters. «Die Gesetze scheinen hier nicht zu gelten, die lokalen Behördenvertreter können tun, was sie wollen.»
Zu Boden gestossen
Auslöser der Krawalle war das Vorgehen der Polizei vom letzten Freitag gegen eine 20-jährige Strassenverkäuferin. Wang Lianmei, die wie viele Wanderarbeiter aus der Provinz Sichuan stammt, soll ihre Ware ohne Bewilligung verkauft haben. Während des Streits soll die schwangere Frau zu Boden gestossen worden sein. Bald schon verbreitete sich das Gerücht, Wangs Ehemann Tang Xuecai sei bei der Auseinandersetzung getötet und die Frau schwer verletzt worden. Worauf wütende Arbeiter auf die Strasse gingen.
Die Behörden bemühten sich an einer Pressekonferenz am Sonntag darum, die «haltlosen Gerüchte» zu widerlegen. Wang sei nicht gestossen worden, sondern gestürzt. «Die Frau und der Fötus sind unversehrt», betonte Ye Niuping, der Bürgermeister von Zengcheng. Es sei niemand getötet worden. Xu Zhibiao, der Parteichef der Stadt, besuchte die Verkäuferin laut der Parteizeitung «China Daily» im Spital und brachte ihr einen Früchtekorb mit.
Erinnerung an Tunesien
Der Fall erinnert an den tunesischen Strassenverkäufer Mohamed Bouazizi, der sich im letzten Dezember in der Stadt Sidi Bouzid angezündet hatte, weil er von den Behörden schikaniert worden war. Die Selbsttötung wurde zum Auslöser für den Aufstand gegen Präsident Ben Ali und die gesamte Protestwelle in der arabischen Welt. Die chinesische Führung bemüht sich seither, eine ähnliche Entwicklung in ihrem Land zu unterbinden. Begriffe wie «Jasmin-Revolution» werden im Internet zensiert.
Das Riesenreich China lässt sich nicht mit dem Kleinstaat Tunesien vergleichen. Dennoch häufen sich die Berichte über Proteste. Letzte Woche demonstrierten in Chaozhou Arbeiter einer Keramik-Fabrik, weil ihre Löhne nicht bezahlt wurden. In Lichuan in der Provinz Hubei griffen rund 2000 Personen den örtlichen Regierungssitz an, nachdem ein Lokalpolitiker, der sich gegen die Korruption gewehrt hatte, in Gewahrsam der Polizei ums Leben gekommen war. Und in der Inneren Mongolei kam es zu den grössten Kundgebungen seit 20 Jahren, weil ein Schafhirte angeblich von einem Han-Chinesen überfahren wurde.
Grassierende Inflation
Besonders viel Zündstoff steckt in der schwierigen sozialen Lage der Wanderarbeiter. Sie werden nicht nur häufig gegenüber der lokalen Bevölkerung diskriminiert, sondern leiden auch unter der grassierenden Inflation vor allem bei den Lebensmittelpreisen. Der Preis für ein Pfund Schweinefleisch sei innert Jahresfrist von 9 auf 13 Yuan gestiegen, sagte Yu Ankun, ein Arbeiter in einer Jeansfabrik in Zengcheng, gegenüber Reuters. Er brachte das Dilemma auf den Punkt: «Wir haben keine Wahl, wir müssen etwas verdienen. Wir können nicht nach Hause zurück.»
Inflation legt wieder zu
Die Preise für Nahrungsmittel haben die Inflationsrate in China im Mai auf 5,5 Prozent und damit den höchsten Stand seit fast drei Jahren steigen lassen. Im April betrug die Rate 5,3 Prozent, im März 5,4 Prozent, so hoch wie seit 32 Monaten nicht mehr. Wirtschaftsexperten hatten die Steigerung erwartet, die Regierung hat für dieses Jahr allerdings nur eine vierprozentige Inflation vorhergesagt.
Den am Dienstag vom nationalen Statistikamt veröffentlichten Zahlen zufolge stiegen die Lebensmittelpreise um 11,7 Prozent. Dafür wurden unter anderem Dürre und andere Naturkatastrophen sowie eine steigende Nachfrage verantwortlich gemacht. Um dem Inflationstrend entgegenzuwirken, hat Peking seit Oktober vier Mal die Zinsen erhöht. (dapd)