Aus Angst vor dem Chef: Schweizer gehen lieber am Abend zum Arzt

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Aus Angst vor dem ChefSchweizer gehen lieber am Abend zum Arzt

Der Druck in der Berufswelt steigt, Angestellte sollen gesund und dynamisch wirken. Viele verheimlichen deshalb den Arztbesuch vor ihren Chefs.

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Viele Ärzte bieten ihren Patienten neu auch Termine am Abend oder am Wochenende an.

Viele Ärzte bieten ihren Patienten neu auch Termine am Abend oder am Wochenende an.

Nicht nur Supermärkte oder Restaurants, auch Arztpraxen sind heute zunehmend zu früher Morgenstunde oder spätabends geöffnet. An vorderster Front mischen dabei die Notfallpraxen mit. In fast allen grösseren Schweizer Städten existieren solche an zentral gelegenen Standorten.

Eine davon ist die Medix-Notfallpraxis am Zürcher Stauffacher. Wie Praxisleiter Markus Essig erklärt, ist die Nachfrage nach Terminen zu Randzeiten sehr hoch. «Vor allem am frühen Morgen, aber auch am Abend nach der Arbeit kommen junge, berufstätige Personen zu uns», so Essig. Für diese seien die langen Öffnungszeiten – bis 21 Uhr – praktisch, da ein Arzttermin so nicht in die Arbeitszeit gelegt werden müsse.

Druck der Arbeitgeber

Wieso extra nach der Arbeit zum Arzt gehen anstatt bezahlt während der Arbeitszeit? Ein Grund hierfür liegt laut Markus Essig der Druck gewisser Arbeitgeber. In einer Zeit, in der von Angestellten erwartet wird, jederzeit gesund und dynamisch zu wirken, könne es zum Nachteil werden, wenn der Chef von einer Erkrankung wisse.

Essig erklärt: «Wir hatten schon Patienten, die ihren Arbeitgebern Unfälle verheimlichen wollten.» Ein Problem, denn sowohl für Berufs- als auch Nichtberufsunfälle kommt in der Schweiz die Unfallversicherung des Arbeitgebers auf. Wie hoch genau die Anzahl solcher Fälle ist, sei aber schwierig abzuschätzen.

James Koch, Leitender Arzt bei der Permanence am Hauptbahnhof Zürich, bestätigt, dass Leute häufig ausserhalb der Arbeitszeiten zum Arzt gehen würden. «Gerade in der Finanz- und Versicherungsbranche kommt es oft vor, dass Arbeitnehmer ihrem Chef lieber nichts von einer Erkrankung erzählen.» Ausserdem würden zum Beispiel Manager trotz Krankheit fragen, ob sie von zu Hause aus arbeiten dürfen. «Patienten in Führungspositionen haben Angst, dass der Berg an Arbeit während ihrer Abwesenheit ins Unermessliche wächst», so Koch.

Kein Hausarzt vorhanden

Neben gestressten Berufstätigen suchen auch Menschen die Notfallpraxen auf, die aus unterschiedlichsten Gründen keinen Hausarzt haben. Diese finden so bei Bedarf schnell einen Arzt.

Das haben auch gewisse Spitäler erkannt. Zum Beispiel das Spital Uster im Kanton Zürich. Anfang 2013 in Betrieb genommen entlastet die spitaleigene Notfallpraxis die mit «leichten Notfällen» überschwemmte Notfallstation des Krankenhauses. Knapp 5000 Patienten wurden 2014 dort behandelt, berichtet der «Zürcher Oberländer».

Auch Fachärzte

Inzwischen geht der Trend hin zu mehr Flexibilität, auch über die medizinische Grundversorgung hinaus. So haben selbst Fachärzte begonnen, ihre Praxen den Regeln der 24-Stunden-Gesellschaft anzupassen. Ein Beispiel ist Mathias Dolder. Der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie führt die Central-Praxis in Zürich.

Wie das Portal storyfilter.com berichtet, kann man bei Dolder auch spätabends noch eine Darm- oder Magenspiegelung machen lassen. Einmal die Woche öffnet der Arzt seine Praxis nämlich bis 22 Uhr. Die Nachfrage nach solchen Terminen sei gross: «Heute will man am Abend halt nicht mehr bloss ein Entrecôte im Laden kaufen können, sondern auch zum Arzt», so Dolder.

Vor dem Umfeld verheimlichen

Dolder bestätigt ausserdem die Aussage Essigs zur Beliebtheit von nächtlichen Konsultationen. Er habe viele Patienten, deren Termine er extra so lege, dass niemand aus ihrem Umfeld etwas davon mitbekomme. Viele Personen würden lieber ihre Freizeit opfern, als bei der Arbeit zu fehlen.

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