Arbeitszeiterfassung: Schweizer mögen die Stempeluhr

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ArbeitszeiterfassungSchweizer mögen die Stempeluhr

Der Bundesrat lockert die Vorschriften zur Arbeitszeiterfassung. Keine Freude daran haben die Gewerkschaften – und viele Schweizer Angestellte.

V. Blank
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V. Blank

Das Thema Arbeitszeiterfassung sorgt für hitzige Diskussionen. Nachdem der Bundesrat gestern die Lockerung der Vorschriften bekannt gegeben hatte, machten viele 20-Minuten-Leser ihrem Ärger Luft: «Einmal mehr 1:0 für die Arbeitgeber – Überzeit, die nicht erfasst und ausgewiesen wird, kann von der Firma weiterhin verlangt, muss aber nicht entschädigt werden», schreibt Leser V.K. Ein anderer Kommentator klagt: «Jetzt können wir Kleinen noch mehr ausgesaugt werden.» Angst vor Ausnutzung hat auch Leser R.: «Ohne Stempeln arbeitet man etliche Stunden gratis für den Arbeitgeber.»

Geht man nach den Leser-Kommentaren, bevorzugen es die Schweizer Angestellten eher, wenn ihre Arbeitszeit erfasst wird. Dass dazu eine gesetzliche Pflicht besteht, wissen aber viele nicht. Daran ändert bis auf gewisse Ausnahmen (siehe Box) auch die revidierte Arbeitsgesetz-Verordnung nichts. Obwohl die Arbeitgeber in der Pflicht stehen, sieht die Praxis anders aus, sagt Vania Alleva, Präsidentin der Gewerkschaft Unia, zu 20 Minuten: «Studien zeigen, dass die Arbeitszeit bei rund 17 Prozent der Arbeitnehmenden und einem Viertel der Kader gar nicht erfasst wird.»

«Risiko von Stress und Burnout steigt»

Das Problem, dass Angestellten in der Schweiz trotz klarer Gesetzesvorgabe nicht die Möglichkeit zum Stempeln geboten wird, beobachten die Gewerkschafter über alle Branchen hinweg. Weit verbreitet ist das Phänomen laut Unia etwa in den Dienstleistungsbranchen. Betroffen seien häufig auch Mitarbeiter in kreativen Berufen sowie Architekten, Bank- und Versicherungsangestellte.

Ein Missstand, findet Gewerkschaftspräsidentin Alleva: «Wenn die Arbeitszeit nicht erfasst wird, steigt das Risiko von Stress und Burn-out.» Zudem würden ohne Erfassung die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen: «Das bedeutet de facto Gratisarbeit.»

Arbeitgeber für noch mehr Lockerung

Ganz anders sieht das der Arbeitgeberverband. Nur weil die Arbeitszeit erfasst wird, hätten Angestellte nicht automatisch ein Anrecht auf bezahlte Überstunden, sagt Verbandsdirektor Roland A. Müller zu 20 Minuten: «Die Arbeitszeiterfassung steht im Zeichen des Gesundheitsschutzes und ist keine Grundlage für zusätzliche Lohnzahlungen.» Zulässige Mehrarbeit müsse, wenn es im Arbeitsvertrag so vorgesehen sei, nicht vergütet werden.

Grundsätzlich geht dem Arbeitgeberverband die Lockerung der Erfassungspflicht noch zu wenig weit, da die Lösung nicht für alle Branchen optimal sei. Der Verband spricht erst von einem «Zwischenschritt»; das 50-jährige Arbeitsgesetz werde der heutigen Realität der Arbeitswelt mit ihren zunehmend flexiblen Arbeitsformen und -bedingungen nicht mehr gerecht. «Die Art einer sinnvollen Arbeitszeiterfassung ist immer abhängig von den konkreten Umständen im Unternehmen», so Müller.

«Schritt in modernere Arbeitswelt»

Dass Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Angestellten häufig nicht mehr erfassen, weiss auch Bundesrat Johann Schneider-Ammann. «Das Arbeitsgesetz wird seit Jahren systematisch verletzt», sagte er bei der Präsentation der neuen Verordnung. Er wolle «Ordnung im Stall», wofür die Lockerung der Stempelpflicht jetzt sorge – sie sei die Beendigung eines gesetzeswidrigen Zustands und ein Schritt in eine «modernere Arbeitswelt».

Gutverdienende müssen nicht mehr stempeln

Angestellte mit einem Bruttoeinkommen von über 120'000 Franken, die ihre Arbeitszeiten mehrheitlich selber bestimmen können, müssen künftig ihre Arbeitsstunden nicht mehr erfassen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass diese Möglichkeit in einem Gesamtarbeitsvertrag vorgesehen ist. Der Bundesrat geht davon aus, dass weniger als zehn Prozent der Arbeitnehmenden mit dieser Regelung auf die Arbeitszeiterfassung verzichten können. Eine Lockerung sieht der Bundesrat auch für weniger gut verdienende Angestellte vor: Wer seine Arbeitszeiten zu einem grossen Teil selber bestimmen kann, muss künftig nur noch die Gesamtdauer der täglichen Arbeitszeit dokumentieren. Die Revision des Arbeitsgesetz-Verordnung tritt auf Anfang nächstes Jahr in Kraft.

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