Ziel ÄrztinSiham (20) kämpfte sich von der Sek B zur Matur hoch
Siham (20) büffelt eifrig für die Zulassung an die Universität. Setze man sich etwas in den Kopf, klappe es, dafür sei sie das beste Beispiel, so die Schülerin.

- von
- Bettina Zanni
Auf Tiktok dokumentiert Siham ihren Lernalltag.
Darum gehts
Nach der Primarschule wurde Siham (20) in die Sek B eingeteilt. An ihrer Intelligenz habe es nicht gelegen, sagt sie.
In wenigen Tagen schreibt sie die Passerelle-Prüfungen.
Die bestandenen Prüfungen wären die Krönung ihres harten Kampfs an die schulische Spitze.
Siham hat einen Durchhänger. «Ich habe eine harte Lernblockade. Ich habe noch so viel Stoff zu lernen», klagt sie ihren 11’000 Followern und Followerinnen in einem Tiktok-Video. Sie habe keinen Bock mehr und brauche Ferien. Die letzten Hürden stehen in wenigen Tagen bevor: Acht Prüfungen in den Fächern Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte, Geographie, Deutsch und Englisch.
Beim Treffen zwei Tage später hat sich die 20-Jährige längst wieder zusammengerafft. Konzentriert sitzt Siham, die im Artikel nur mit Vornamen erscheinen will, am frühen Mittwochmorgen an einem der Arbeitsplätze in der Zürcher Zentralbibliothek (ZB) und büffelt Geschichte und Geographie.
Tausende Seiten Lernstoff
In der ZB sitzt sie diesen Sommer fast täglich sechs Stunden, um sich auf die Passerelle (siehe Box) vorzubereiten. «Der ganze Stoff muss nächste Woche abrufbar sein.» Die bestandene Ergänzungsprüfung Passerelle, eine Alternative zur gymnasialen Matur im Schnelldurchlauf, wäre die Krönung ihres harten Kampfs an die schulische Spitze.

Siham bereitet sich diesen Sommer in der ZB fast täglich sechs Stunden auf die Passerelle-Prüfungen vor.
«Die Eltern hatten keine Zeit, mich Voci abzufragen»
«Nach der Primarschule wurde ich in die Sek B eingeteilt», erinnert sich Siham im Café in der Nähe ihrer Büffelstätte und nimmt nachdenklich einen Schluck aus ihrem Cappuccino. An ihrer Intelligenz habe es nicht gelegen. «Vielmehr fehlte mir die Unterstützung. Meine Eltern haben keine Ausbildung. Sie arbeiteten den ganzen Tag und hatten keine Zeit, mich abends Voci abzufragen oder mich daran zu erinnern, dass ich besser lernen statt spielen sollte.»
Dennoch stieg sie bereits nach dem ersten Semester in die Sek A auf. Immer wieder habe sie gehört, dass die Jobaussichten mit einem Sek-B-Abschluss schlecht seien. «Deshalb lernte ich bis in die Nacht und schrieb im Zeugnis dann fast alles Sechser und Fünfeinhalber», sagt sie stolz.
Identität kommt vor Lehrstelle
Kaum in der Sek A angekommen, steckte sich Siham ein weiteres Ziel: das Gymnasium. «Leider klappte die Gymiprüfung nach der zweiten Sek aber nicht. Ich wusste nicht, wie ich mich darauf vorbereiten sollte.» Mangels Vorbereitung sei sie auch knapp durch die Aufnahmeprüfung für die Berufsmittelschule gefallen.
Wegen des Kopftuchs gestaltete sich für Siham, die somalische Wurzeln hat, auch die Lehrstellensuche nicht einfach. Den Hidschab abzulegen, kam für die Muslimin aber keinen Moment infrage. «Die Religion ist mir wichtig und das Kopftuch gehört zu mir – es ist etwas Persönliches zwischen mir und Gott. Lieber stand ich ohne Lehre als ohne Kopftuch da.»
Doch, als sie bei einer Arztpraxis damit auf keinen Widerstand stiess, ging es schnell: «In der zweiten Sek schnupperte ich in der Hausarztpraxis. Drei Wochen nach dem Start der dritten Sek hatte ich die Zusage für die Lehre», erzählt sie mit leuchtenden Augen.
«Wollte am liebsten selbst die Diagnose stellen»
In der Lehre blühte Siham auf. Sie habe den Arzt jeweils mit Tausenden Fragen gelöchert. «Wenn ein Patient anrief, wollte ich am liebsten gleich selbst die Diagnose stellen und Medikamente empfehlen», sagt sie lachend. Sie habe sich einen Spass daraus gemacht, ihre Diagnosen mit denjenigen des Arzts zu vergleichen. «Oft stimmten meine Diagnosen sogar mit seinen überein», sagt sie amüsiert. Siham wirkt selbstbewusst, aber nie überheblich. Ihre Sätze formuliert sie so klar, wie sie auch auf Tiktok ihre Lernmethoden präsentiert.
Die Lehre bestärkte sie in ihrem Streben nach dem Traumberuf der Ärztin, den sie seit der Sek B hegt. Das Ziel der Matur verlor sie deshalb nicht aus den Augen: Im dritten Lehrjahr klappte es mit der BMS-Aufnahmeprüfung. Kaum hatte sie die Berufsmaturität abgeschlossen, bewarb sie sich erfolgreich an der Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene (KME) für die Passerelle.
Brief mit Prüfungsresultat live geöffnet
Warum ist Siham ständig auf der Überholspur unterwegs? «Ich möchte so schnell wie möglich Medizin studieren. Es ist, wie wenn man eine Schoggi-Box vor sich hat und unbedingt ein Schöggeli rausnehmen will.» Die anatomischen Strukturen und Krankheiten interessierten sie so sehr, dass sie es kaum abwarten könne, diesen auf den Grund zu gehen.
Da konnte auch der als Numerus Clausus bekannte Eignungstest nicht warten, den etwa der Kanton Zürich für das Medizinstudium voraussetzt. Zeit, um sich auf den kniffligen Test vorzubereiten, blieb ihr im voll gepackten Passerelle-Jahr aber kaum.

«Ich möchte so schnell wie möglich Medizin studieren», sagt Siham.
Kürzlich öffnete sie vor ihren Followern und Followerinnen auf Tiktok, sichtlich nervös, den Brief mit dem Prüfungsresultat. Das Resultat nahm sie mehr abgeklärt als enttäuscht an. «Ich habe nicht bestanden, aber es ist okay. Ich arbeite ein Jahr und dann bereite ich mich ein ganzes Jahr darauf vor», verkündete sie darin (siehe Video oben).
Setze man sich etwas in den Kopf, klappe es, sagt Siham, kurz bevor sie sich wieder zum Lernen in die ZB setzt. «Ich bin das beste Beispiel dafür.» Davon wolle sie mit ihren Videos anderen Menschen etwas mitgeben.
Die Passerelle
Die Passerelle ist eine Zulassungsprüfung für das Studium an einer Universität oder ETH für Personen, die keine gymnasiale Matura absolviert haben. Voraussetzung ist ein Berufsmaturitätszeugnis oder ein Fachmaturitätszeugnis. Auf die Passerelle vorbereiten kann man sich autodidaktisch oder durch den Besuch eines einjährigen Kurses. Das Bestehen hängt allein vom Prüfungsergebnis ab, Vornoten gibt es nicht.
Die Lehrstellenplattform Yousty führt aktuelle einen Awareness Month zum Thema duale Berufsbildung durch. «Leider kennen noch immer wenige den Weg mit einer Passerelle und dass man mit einer Lehre durchaus auch zum Beispiel ein Medizinstudium angehen kann», sagt Corinna Cordes, Leiterin Digitales Marketing und Inhalte. So informiere Yousty momentan über Chancen und Möglichkeiten mit der Berufslehre auf all ihren Kanälen, zum Beispiel Instagram.
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