Das neue Ungarn«Sie werden mich nicht zensieren»
Die autoritäre Regierung Ungarns könne nur überleben, wenn sie einen Aufschwung herbeiführe, sagt der Publizist Paul Lendvai. Gründe für die diktatorischen Tendenzen ortet er in der Geschichte.
- von
- Joel Bedetti

Ungarns starker Mann: Premier Viktor Orban.
20 Minuten Online: Herr Lendvai, Sie befinden sich gerade in Budapest. Wie ist die Stimmung auf den Strassen?
Paul Lendvai: Die ist normal. Es herrscht Weihnachtsstimmung. Eine kleine Gruppe von Bürgerrechtlern hat gegen das autoritäre Mediengesetz demonstriert, aber die mehrheitlich regierungsfreundlichen Medien spielten das herunter.
Sie haben jetzt noch einen Termin im ungarischen Fernsehen. Werden Ihre Antworten zensiert?
Nein, es ist eine kleine liberale Fernsehstation. Sie werden mich nicht zensieren.
Dann riskieren Sie eine Busse, wenn Sie sich zu kritisch gegenüber der Regierung äussern.
Nein, nein. So weit sind wir noch nicht.
Trotzdem: Was ist los in Ungarn?
Die Regierung der Fidesz verfügt seit dem April eine Zweidrittelmehrheit. Sie versucht nun, in alle Richtungen ihre Position so zu festigen, dass sie nicht ohne Weiteres aus der Macht gedrängt werden kann. Das ist in nächster Zeit auch nicht wahrscheinlich: Die sozialistische Opposition ist zerstritten und hat nach Korruptionsfällen ein miserables Image. Die Bürgerrechtsbewegung ist klein. Wenigstens, und viele Demokraten sehen das als positive Seite des Aufstiegs der Fidesz an, sind die rechtsextremen Strömungen fürs Erste eingedämmt.
Man kann es auch so sehen: Eine autoritäre Partei hat sich mit dem Wahlspruch «Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung» demokratisch die Mehrheit geholt, schafft jetzt die Demokratie ab und säubert die Beamtenschaft. Das erinnnert an die Machtübernahme der Nazis.
Der Vergleich mit den Nazis ist zu extrem. Die Demokratie wird zwar ausgehöhlt, aber eine Diktatur ist noch nicht entstanden. Zudem regt sich Widerstand: Im vergangenen Monat ist gemäss unabhängigen Umfragen die Zahl der Leute, die von der Fidesz-Regierung enttäuscht sind, von 39 auf 48 Prozent geklettert.
Was sind die Gründe dafür?
Das wirtschaftliche Versagen der Regierung. Man hat den Eindruck, dass die politische Machtübernahme viel besser geplant war als die Wirtschaftspolitik. Ungarn ist hoch verschuldet und hat eine hohe Arbeitslosenquote. Die Regierung hat zwar versprochen, in zehn Jahren eine Million Arbeitsplätze zu schaffen, aber ich zweifle daran, dass sie das schaffen. Zudem vergrault die Regierung mit ihren Sondersteuern Unternehmen aus dem Ausland.
Entscheidet der wirtschaftliche Erfolg über den Machterhalt?
Längerfristig ja. Wenn die Fidesz keinen Aufschwung herbeiführen wird, wird sie Widerstand aus der breiten Bevölkerung zu spüren bekommen. Das ist ihr wichtiger als Demokratie. Nur fürchte ich, dass die Enttäuschten dann zu den Rechtsradikalen überlaufen.
Wo liegen die Gründe für die Geringschätzung der Demokratie in Ungarn?
In der Geschichte. Die Niederlage des ungarischen Königsreiches im Ersten Weltkrieg gegen die westlichen Demokratien bedeutete den Untergang als europäische Macht. Ungarn verlor zwei Drittel des Territoriums, seither leben Minderheiten in den Nachbarländern. Diese Wunde ist bis heute offen, sie ist eine Quelle für den Nationalismus. 1956 marschierten die Russen ins reformfreudige Ungarn ein - das Land wurde vom demokratischen Westen im Stich gelassen. Seit dem Fall der Mauer 1989 sind die Regierungen vor allem durch Korruption aufgefallen. Die Ungaren haben keine guten Erfahrungen mit der Demokratie gemacht. Ausserdem wurde die faschistische Vergangenheit nie aufgearbeitet.
Viktor Orban, Ministerpräsident und der starke Mann der Fidesz, war bereits 1998–2002 an der Macht, wurde aber wegen zahlreicher Korruptionsfälle abgewählt. Wieso kann er wenige Jahre danach eine grosse Mehrheit der Stimmbürger hinter sich scharen?
Die Sozialisten, die nach ihm kamen, löschten durch ihre noch grösseren Korruptionsfälle die Erinnerung daran aus. Zudem gelang es den Rechtskonservativen Fidesz, ein Medienimperium aufzubauen, während die öffentlich-rechtlichen Anstalten zerstritten waren. Und nicht zuletzt konnte sich Viktor Orban als starker Mann profilieren. Er hat sämtliche tatsächlichen und vermeintlichen Gegner in der Partei kaltgestellt.
Der ungarische Nationalismus ist zunehmend aggressiv geworden, die Regierung Orban unterstützt die Exilgemeinschaften. Ist es denkbar, dass Ungarn mit einer aggressiven Aussenpolitik die Region destabilisieren könnte?
Im nächsten halben Jahr, in dem Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wird sicher nichts geschehen. Später könnte Ungarn aber versuchen, den Minderheiten im Ausland das Bürgerrecht zu gewähren.
Wie wird die EU auf das autoritäre Ungarn reagieren?
Sie wird wohl nichts tun. Solange sich keine dramatischen Ereignisse abspielen, wird sie sich nicht in Ungarns Innenpolitik einmischen.
Was ist Ihre Prognose für Ungarn?
Die Geschichte Ungarns zeigt, dass Prognosen fast unmöglich sind. Aber nach menschlichem Ermessen wird Viktor Orban das Land sicher in den nächsten fünf Jahren führen.
Was wird die neue Verfassung bringen, die derzeit ausgearbeitet wird?
Nichts Neues, denke ich. Das wird reine Kosmetik sein. Die Machtfrage ist bereits entschieden.
Intellektueller
Paul Lendvai, 81, kennt Ungarn wie nur wenige. Seine Biografie widerspiegelt Ungarns Geschichte im 20. Jahrhundert. Als Kind wurde der Jude Lendvai um ein Haar ins Konzentrationslager verschleppt. Er wurde ein glühender Kommunist, bis ihn die Verbrechen Stalins und die Besetzung des reformfreudigen Ungarns durch russische Truppen 1956 dazu bewogen, nach Österreich auszureisen. Ab den 80er-Jahren leitete Lendvai das Osteuropa-Bürp des ORF. Seit vielen Jahren versuchen rechtskonservative und nationalistische Gruppierungen in Ungarn, Lendvai zu diffamieren. Sie behaupten, er sei während seiner Zeit als ORF-Korrespondent ein kommunistischer Spitzel gewesen. Als Paul Lendvai vor kurzem an der Uni Frankfurt sein neues Buch vorstellen wollte, wurde die Lesung abgesagt - ungarische Nationalisten in Deutschland hatten gedroht, die Veranstaltung gewaltsam zu stören.
In seinem neu erschienenen Buch «Mein verspieltes Land», Ecowin Verlag, bilanziert Paul Lendvai das Scheitern der ungarischen Politik seit dem Fall der Mauer.