ReligionSind die Kirchen ihre Steuergelder wert?
Etwa 1,5 Milliarden Franken Steuergelder erhalten die beiden grossen Landeskirchen jährlich. Was machen sie damit?
- von
- ehs
Die Nerven liegen blank bei den Landeskirchen. Die Gläubigen laufen in Scharen davon. Waren 2000 noch 76,2 Prozent der Bevölkerung Mitglied der katholischen oder evangelisch-refomierten Kirche, waren es 2017 nicht einmal mehr 60 Prozent. Der Trend verstärkt sich: Allein im Kanton Zürich sind letztes Jahr fast 12'000 Menschen aus den beiden grossen Kirchen ausgetreten.
Als 20 Minuten in einem Artikel über die Möglichkeit zum Kirchenaustritt berichtete, folgte heftige Kritik. Die sozialen Leistungen der Kirche würden nicht gewürdigt, die Berichterstattung sei unfair, hiess es. Ein «grosser Schaden» sei angerichtet worden, hiess es aus dem Bistum St. Gallen. Doch wie präsentiert sich die Situation tatsächlich?
Nationale Zahlen fehlen
Schätzungsweise 1,5 Milliarden Franken Kirchensteuern von Privaten und Firmen nehmen die beiden Landeskirchen jährlich ein. Die «Bilanz» bezifferte allein die Steuereinnahmen der katholischen Kirche für das Jahr 2014 auf knapp eine Milliarde Franken.
Weil Kirchensteuern kantonal und teils sogar kommunal organisiert sind, fehlen nationale Daten. Zahlen aus dem Jahr 2017 von einer der grössten Kirchen, der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, zeigen aber, wie das Geld ausgegeben wird. Diese Zahlen decken sich nicht zu 100 Prozent, da eine Abgrenzung verschiedener Positionen nicht immer möglich ist.
Dafür wird das Geld ausgegeben
• Für Löhne wurden Gelder in der Höhe von 37 Prozent der Steuereinnahmen ausgegeben.
• Für den Gemeindeaufbau und die Leitung wurde ein Betrag in der Höhe von 35,6 Prozent der Steuereinnahmen eingesetzt.
• Für Seelsorge und Diakonie, also das Aufsuchen und Gespräch mit Gläubigen, wurden Gelder in der Höhe von 24,8 Prozent der Steuereinnahmen verwendet.
• Für Bildung und Spiritualität – dazu gehören etwa Hauskreise, Chorsingen oder Vorträge – gingen Gelder in der Höhe von 13,5 Prozent der Steuereinnahmen drauf.
• Für Gottesdienste und Verkündigung wurde ein Betrag in der Höhe von 13,1 Prozent der Steuereinnahmen ausgegeben – wobei die Steuereinnahmen von Firmen in Zürich nicht für diesen Zweck verwendet werden dürfen.
• Die Liegenschaften wie Kirchen oder Kirchgemeindehäuser verschlangen Gelder in der Höhe von 11,8 Prozent der Steuereinnahmen.
• Beträge in der Höhe von 2,6 Prozent der Steuereinnahmen wurden für vertraglich gebundene Beiträge ausgegeben. Dazu gehört ein Beitrag an den landesweiten Kirchenbund, an die Paarberatung und Mediation, an die Lehrlingsarbeit und an französisch-, italienisch- und spanischsprachige Kirchen.
• Für sogenannte Sockelbeiträge wurden lediglich Gelder in der Höhe von 1,1 Prozent der Steuereinnahmen verwendet. Dazu gehören etwa Beiträge an das Hilfswerk Heks, an die Beratungsstelle für Asylsuchende, die Dargebotene Hand, Schulen oder Jugendkirchen.
«Missbräuche schaden Kirche»
Ähnlich sieht es bei der katholischen Kirche aus. Das Bistum St. Gallen will mit der Internetseite Kirchensteuer-sei-dank.ch zeigen, wohin das Steuergeld fliesst. Nur 9 Prozent würden für die Verwaltung aufgewendet, heisst es dort. Doch warum laufen die Mitglieder den Kirchen trotzdem in Scharen davon?
Die Kirche habe einige Probleme, sagt Aschi Rutz von der Kommunikationsstelle der katholischen Kirche des Kantons Zürich. Die Missbrauchs-Skandale seien das wahrscheinlich grösste. «Selbst wenn sie nicht bei uns passieren, schockieren sie die Mitglieder. Solche Skandale müssen sofort und überall in der Kirche aufhören. Die Nulltoleranz muss überall gelebt werden.»
Hat Kirche ein Frauenproblem?
Ein zweites Problem habe die katholische Kirche mit den Frauen. «Dass sie nicht gleichberechtigt Ämter übernehmen können, verstehen immer weniger Gläubige», sagt Rutz. Dass prominente Frauen aus der Kirche ausgetreten seien, tue sein Übriges. «Hier muss sich die Kirche definitiv bewegen.»
Die Kirche habe ein zusätzliches Imageproblem. «Gewisse Exponenten sprechen teilweise eine Sprache von vorgestern und beschäftigen sich zu stark mit sich selbst und zu wenig mit den Sorgen und Freuden der Menschen», sagt Rutz. Und vielfach seien die Leistungen, die die Kirche anbiete, kaum bekannt.
«Kirche verkauft nichts»
Der strukturelle Wandel könne nicht bestritten werden. Alle Institutionen würden an Relevanz verlieren und nicht mehr die gleiche Rolle spielen wie früher. Da gehe es der Kirche gleich wie den Parteien oder den Gewerkschaften. Dienste und Rituale der Kirche wie Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen seien aber nach wie vor für viele Menschen wichtig.
Dabei biete die Kirche dem Einzelnen und der Gesellschaft viel mehr: Sie betreue 120'000 Menschen in 22 Migrantenseelsorgen, sei an Orten wie am Zürcher Hauptbahnhof oder am Flughafen präsent und helfe Flüchtlingen, Behinderten und Randständigen ebenso wie Polizisten und Rettungskräften oder Kranken in Spitälern.
Diese Leistungen betont auch Gottfried Locher, Präsident des Evangelischen Kirchenbunds. Dass die Kirche ein PR-Problem habe, glaube er nicht. «Die Kirche verkauft nichts, sie verschenkt. Was wir weitergeben, hilft Menschen seit 2000 Jahren. Das ist stärker als werbewirksame Verpackung.»
Die Austritte begründet Locher damit, dass immer mehr Spiritualität ohne Kirche leben. Das sei zwar legitim. Aber: «Christinnen und Christen leben ihren Glauben in Gemeinschaft. Ich kann das nur empfehlen.»