«London Calling»So schlecht sind die Schweizer gar nicht
Zweimal Gold, zweimal Silber: Die Schweiz kann sich besser im Sport behaupten als viele andere Länder. Dies, weil sich die Athleten und die Sport Schweiz AG angepasst haben.
- von
- Klaus Zaugg
- London
Alles, was in der Aussenwahrnehmung einer Sportkultur zählt, ist der Olympia-Medaillenspiegel. Und einmal mehr können wir an dieser «Sport-Weltrangliste» ablesen, dass die Schweiz eine der aussergewöhnlichsten Sportnationen der Welt ist. Aber auch, dass der Erfolg zerbrechlich ist.
Der Schweizer Sport ist ein wundersames Geflecht aus staatlicher und privater Förderung, aus persönlicher Initiative und verbandstechnischem Sozialismus. An der «Sport Schweiz AG» sind Milliardäre, die Armee, die Politik, die Wirtschaft und die Sportverbände beteiligt. London 2012 hat gezeigt, dass sich diese «Sport Schweiz AG» erfolgreich dem globalen Sport des 21. Jahrhunderts angepasst hat.
Bilanz nur auf den ersten Blick unbefriedigend
Die Bilanz der Spiele von 2012 ist zwar auf den ersten Blick unbefriedigend. Zu viele Athletinnen und Athleten waren nicht dazu in der Lage, ihre Bestleistung abzurufen. Das Medaillenziel (5 bis 7) ist mit 4 Medaillen nicht erreicht worden. Der anvisierte Platz 25 im Medaillenspiegel auch nicht – wir sind 32. geworden.
Aber auf den zweiten Blick ist diese Bilanz gerade im internationalen Vergleich sehr gut. Wir stellen unser Licht unter den Scheffel. Am Ende des Tages zählt nur eines: Ob es einer Sportnation möglich ist, ein paar olympische Helden zu krönen. Und genau das ist den Schweizern in London erneut gelungen. Während selbst grosse, traditionsreiche Sportnationen wie Österreich (keine Medaille), Finnland (kein Gold), Kanada und Schweden (nur einmal Gold) eine olympische Depression erlitten.
Medaillen trotz Umstellungen
Trotz einer noch nie gesehenen Dynamik und Leistungsdichte des globalen Sportes, die auch die Nischensportarten erfasst hat, haben wir mehr olympische Goldmedaillen geholt als 1956, 1960, 1964, 1968, 1972, 1976, 1984, 1988, 1992 und 2004. Und dies, obwohl einige unsere klassischen Goldschmieden des letzten Jahrhunderts (Schiessen, Rudern, Ringen, Turnen) sozusagen den Betrieb eingestellt haben. Das wertet die Bilanz von London 2012 zusätzlich auf.
Ein Blick zurück zeigt eine erstaunliche Entwicklung. Von 1896 bis 1976 haben ausschliesslich die Turner, Schützen, Ruderer und Reiter Goldmedaillen gewonnen. Es ist nun kein Zufall, dass im 21. Jahrhundert von diesen traditionellen, eigentlich vaterländischen Sportlern nur noch die Reiter dazu in der Lage sind, olympisches Gold zu holen und Steve Guerdat unser grösster Olympiaheld ist.
Reitsport als Beispiel des Systems
An den Reitern lässt sich nämlich am besten aufzeigen, wie die «Sport Schweiz AG» funktioniert. Einst waren die Reiter Staatsamateure. Wenn wir die alten Fotos betrachten, dann fällt uns auf, dass sie schmucke Uniformen trugen. Sie standen als Bereiter im Solde unserer Armee der Eidgenössischen Militärpferdeanstalt (EMPFA) in Bern oder deren Filiale in Thun. Alphonse Gemuseus (Gold Springreiten 1924) war Oberleutnant. Sein goldenes Pferd Lucette hatte die Armee 1922 für 48 Pfund in Irland gekauft (Steve Guerdats Goldpferd Nino hat im Vergleich einen Marktwert von mindestens fünf Millionen Franken). Hans Moser (Dressur-Gold 1948) und Henri Chammartin (Dressur-Gold 1964) bekleideten den Rang eines Hauptmannes.
Die Reiter werden spätestens seit der Auflösung bzw. Privatisierung des militärischen Pferdewesens (vor 15 Jahren abgeschlossen) nicht mehr in der Sänfte militärischer Förderung zu den olympischen Arenen getragen. Aber sie haben die Privatisierung des Sportes erfolgreich geschafft: Heute sind unsere Springreiter erfolgreiche Pferdehändler und -züchter oder sie stehen bei steinreichen Investoren in Lohn und Brot wie Steve Guerdat, der eines der Pferde des Milliardärs Urs E. Schwarzenbach zu olympischen Ruhm geritten hat.
Der «Daily Telegraph» schrieb, die Gratulanten, die Steve Guerdat umringten, hätten ausgesehen, als ob ihnen Genf, Zürich oder beides zusammen gehöre. Ganz falsch ist diese neidvolle Beobachtung nicht: Urs E. Schwarzenbach, der Besitzer von Guerdats Golfpferd Nino des Buissonnets, gehört zwar nicht ganz Zürich. Aber immerhin das Nobelhotel Dolder und ein Dorf in England (Hambledon Estate) mit 44 Häusern inklusive Post, Pub und Kirche. Der milliardenschwere Devisenhändler soll dafür 60 Millionen Franken bezahlt haben.
Sportler als Unternehmer
Unsere Sportler des 21. Jahrhunderts wie Roger Federer, Nicola Spirig, Fabian Cancellara oder Viktor Röthlin sind längst im kleinen oder grossen Stil Unternehmer geworden, die sich selber zu organisieren wissen und ihre eigenen Trainer und Berater haben. Die Reiter sind zudem darauf angewiesen, steinreiche Investoren für ihre Pferde zu finden. Steve Guerdats goldener Ritt hat von allen Resultaten hier in London die nachhaltigste Wirkung: Er ist das Signal an alle Milliardäre dieser Welt. Wollt ihr ewigen olympischen Ruhm, müsst ihr eure Pferde einem Schweizer anvertrauen. Der Jurassier wird auch 2016 um Gold reiten.
Unsere olympischen Helden benötigen Swiss Olympic «nur» noch als Dienstleister, sind aber wirtschaftlich nicht mehr oder nur teilweise von unserer obersten Sportbehörde abhängig. Dabei profitieren sie neben privatwirtschaftlicher Förderung (Sponsoring, Sporthilfe) von einer sehr guten, auch durch staatliche und halbstaatliche Mittel (wie Sport Toto) finanzierten Infrastruktur (Sportmedizin, Sportanlagen, Trainer) in unserem Land.
Der Schweizer Sport kann aber nicht vollständig der freien Marktwirtschaft überlassen werden. Weniger «kapitalisierbare» Sportarten (wie Fechten, Rudern, Leichtathletik oder Schwimmen) bedürfen auf allen Ebenen der Hilfe von Swiss Olympic. Dieses Politbüro unseres Sportes vertritt alle Sportverbände und koordiniert ein weit verzweigtes, vorbildliches Fördersystem, zu dem auch die Armee ihren Beitrag leistet. Die Romantik der militärischen Berufsreiter gibt es zwar längst nicht mehr. Aber potenzielle Olympiahelden haben die Möglichkeit, sich als Sportsoldaten auf das olympische Abenteuer vorzubereiten.
Immer auf Ausnahmekönner angewiesen
London 2012 hat in grandioser Art und Weise die Stärke, aber auch die Verletzlichkeit des Schweizer Sportes gezeigt: Wir haben fast keine Reserven und nicht das riesige Talentreservoir der grossen Sportnationen.
Wir sind immer auf einzelne Ausnahmekönner angewiesen. Wir sind darauf angewiesen, dass die wenigen Talente an der Basis entdeckt und gezielt gefördert und Fehlentwicklungen und Nachlässigkeiten sofort erkannt werden. Deshalb braucht es nach London 2012 auch eine schonungslose Analyse der olympischen Niederlagen (u.a. Schiessen, Segeln, Ringen, Fechten, Rudern, Judo, Badminton). Dem Mangel an Quantität stellen wir im Sport Qualität, Flexibilität, Kreativität, Beharrlichkeit und Leidenschaft entgegen – und haben das Glück, dass wir in der Schweiz den Spitzensport nach wie vor finanzieren können. Aber eben: Die Basis ist so schmal, die Luft auf olympischen Höhen so dünn, dass wir uns keine Fehler leisten können.