Rentenreform: Hat Emmanuel Macron zu hoch gepokert?

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Frankreichs RentenreformStrassenschlachten und Verhaftungen – hat Macron zu hoch gepokert? 

Mit 64 Jahren statt mit 62 Jahren mit der Arbeit aufhören – in Frankreich kommt das gar nicht gut an. Die Proteste gegen die Rentenreform verschärfen sich. Was ist eigentlich das Problem der Grande Nation?

Ann Guenter
von
Ann Guenter
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Paris am 23. März: Seit die Mitte-Regierung unter Präsident Emmanuel Macron die umstrittene Rentenreform …

Paris am 23. März: Seit die Mitte-Regierung unter Präsident Emmanuel Macron die umstrittene Rentenreform …

REUTERS
 … vergangene Woche ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung gedrückt hat, werden die schon länger anhaltenden Proteste zunehmend gewalttätig. 

… vergangene Woche ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung gedrückt hat, werden die schon länger anhaltenden Proteste zunehmend gewalttätig. 

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Die Stimmung war in einigen Städten bereits tagsüber angespannt. Etwa in Rennes, …

Die Stimmung war in einigen Städten bereits tagsüber angespannt. Etwa in Rennes, …

via REUTERS

Darum gehts

  • Die Proteste gegen die Rentenreform von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reissen nicht ab.

  •  Landesweit kommt es vermehrt zu Gewalt – und neue Demonstrationen sind bereits angekündigt.

  • Anlass: Macrons Mitte-Regierung hatte die umstrittene Reform ohne Abstimmung durchs Parlament gedrückt. Die Reform sieht die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vor. 

Mit 64 statt nur 62 Jahren in Pension – in Frankreich brodelt die Volksseele wegen der Rentenreform schon lange. Die Reform zur Erhöhung des Rentenalters zählt zu den wichtigsten Projekten der zweiten Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron.

Auch wenn ein Grossteil der Bevölkerung das Vorhaben von vornherein abgelehnt hat, braute sich die Wut erst nach und nach zusammen. Am Donnerstag fand ein landesweiter Streiktag statt, wobei in 300 Städten zwischen einer Million (Polizei) und drei Millionen Menschen (Gewerkschaft) auf die Strassen gingen. In mehreren Städten kam es zu Strassenkämpfen mit Hunderten Verletzten auf beiden Seiten und landesweit zu über 450 Verhaftungen. 

Wieso werden die Proteste radikaler?

Bordeaux, 23. März.

Bordeaux, 23. März.

Reuters

Weil Präsident Emmanuel Macron die Reform am Parlament vorbei in Kraft gesetzt hat. Er stützte sich dafür auf den viel kritisierten Sonderartikel 49.3 der Verfassung: Demnach darf ein Gesetz ohne parlamentarische Schlussabstimmung verabschiedet werden, wenn die Regierung ein anschliessendes Misstrauensvotum übersteht. Das tat sie – dank gerade einmal neun Stimmen. 

Wie argumentiert Macrons Regierung?

Die Rentenreform sei notwendig angesichts des demografischen Wandels. Die Rentenkasse sei nicht mehr ausgeglichen, «und je länger wir warten, desto schlimmer wird es», erklärte Macron diese Woche. Die einzige Alternative wäre gewesen, die Rentenbezüge zu senken, doch das wolle er nicht.

Es sei schade, dass es nicht gelungen sei, die Menschen besser von seinen Plänen zu überzeugen. «Ich versuche nicht, wiedergewählt zu werden, ich kann es verfassungsrechtlich gar nicht», hatte Macron in einem Interview auch erklärt.

Wie argumentieren die Gegner?

Die Rentenreform sei ineffizient und ungerecht, da sie vor allem Frauen und finanziell schwache Menschen treffe. 

Eine Alternative, um die Finanzlücke in der Rentenkasse zu schliessen, sehen einige Gewerkschaften und Parteien darin, die Beitragszahlungen zur Rente zu erhöhen. Kritiker machen geltend, dass die Beiträge schon hoch seien und solche Massnahmen die Nettoeinkommen in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten weiter reduzieren würden. Das Problem würde nur auf die junge, noch aktive Bevölkerung abgewälzt. 

In Sachen Rentenalter ist Frankreich ein Sonderfall. Die Rente mit 60 wurde in den Achtzigerjahren unter Präsident François Mitterrand eingeführt. Sie galt als wichtige soziale Errungenschaft. Wie fast überall hat das Renteneintrittsalter eine starke Symbolwirkung. 

«Was mir immer wieder auffällt: Hier spricht man von der souffrance au travail, also vom Leiden unter der Arbeit. Ein Begriff, den ich aus anderen Ländern nicht kenne», sagt OECD-Expertin Monika Queisser in einem Interview mit dem «Spiegel». «Anscheinend haben viele das Gefühl, dass langes Arbeiten mit Leiden verbunden ist. Die Franzosen wollen möglichst früh in Rente gehen können, um von ihr zu profitieren. Die Rente wird als eine soziale Leistung empfunden, auf die man ein Anrecht hat, mehr als in anderen Ländern.»

Hat Macron zu hoch gepokert?  

Der französische Präsident Emmanuel Macron am 24. März 2023.

Der französische Präsident Emmanuel Macron am 24. März 2023.

REUTERS

Zumindest hat er mit seiner durchgesetzten Rentenreform wohl nur einen Pyrrhussieg errungen, einen Erfolg, der zu viel gekostet hat, um noch als Sieg zu gelten.

Denn die grosse gesellschaftliche und politische Spaltung bleibt bestehen – «mit Oppositionsparteien, die wirklich zu allem bereit sind, und mit einem Präsidenten, der nach dieser Aktion jetzt überhaupt nicht mehr auf das Parlament Rücksicht nehmen wird, sondern durchregiert», so Frankreich-Experte Stefan Seidendorf vom Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg. 

Beobachter gehen davon aus, dass die Proteste gegen die Reform wohl noch Wochen andauern und Frankreichs Wirtschaft belasten werden. Einer Meinungsumfrage des Instituts Elabe zufolge wünschen sich etwa zwei Drittel der Befragten das Aus von Macrons Mitte-Regierung. 

In Pension mit 74 Jahren: Gesetzliches Rentenalter wird steigen

Neben der Schweiz, Deutschland und Italien liegt das ordentliche Renteneintrittsalter auch in Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Schweden und Spanien bei mindestens 65 Jahren.

Derzeit arbeitet in Europa niemand so lange wie die Portugiesen. Das gesetzliche Renteneintrittsalter liegt bei 65,2 Jahren, doch Männer lassen sich erst mit 68,5 Jahren und Frauen mit 65,4 Jahren pensionieren. Auch die Isländer arbeiten mit 68,1 Jahren vergleichsweise sehr lange.

Für Personen, die 2018 mit 22 Jahren in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, plant Dänemark laut der OECD ein gesetzliches Renteneintrittsalter von 74 Jahren. In Ländern wie Estland, Italien und den Niederlanden dürfte das Eintrittsalter dann bei 71 Jahren liegen.

Für nächsten Dienstag haben die Gewerkschaften erneut zu neuen landesweiten Streiks und Protesten aufgerufen. König Charles III. sollte dann zu Besuch in Frankreich sein – der Brite hat nun verschoben

Wie steht Frankreich im internationalen Vergleich da?

Länder, in denen man mit mindestens 65 Jahren gesetzlich in Rente gehen kann, sind in Europa mittlerweile fast die Regel: In der Schweiz liegt das ordentliche Pensionsalter bei 65 und 64 Jahren, Deutschland hat es schrittweise auf 67 Jahre angehoben, in Italien liegt das gesetzliche Rentenalter bei 67 Jahren bei Männern und Frauen (das durchschnittliche dagegen bei  63,3 Jahren und 61,5 Jahren).

Im Vergleich dazu Frankreich, wo schon das gesetzliche Renteneintrittsalter mit 63,3 Jahren sehr niedrig ist. Tatsächlich gehen Franzosen schon mit 60,8 Jahren in Rente.

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Das hat mehrere Gründe: Wer in Frankreich 41,5 Beitragsjahre absolviert hat, kann bereits mit 62 Jahren die volle Rente in Anspruch nehmen. In der Schweiz und anderen Ländern sind dagegen mehr Beitragsjahre erforderlich, und auch das Rentenniveau ist deutlich tiefer. Entsprechend  – und anders als in Frankreich – ist es finanziell weniger attraktiv, frühzeitig in Pension zu gehen.

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