Ein neuer AbschnittStrauss-Kahn könnte erst der Anfang sein
Mit Strauss-Kahn verlässt nicht nur ein politisches Schwergewicht die Bühne. Der Vorwurf der sexuellen Belästigung bringt auch weitere Politiker in Frankreich in Bedrängnis.
- von
- Annika Joeres ,
- AP

Dominique Strauss-Kahn mit Gattin beim Verlassen des Gerichts in New York.
Mit dem Skandal um Dominique Strauss-Kahn beginnt für Frankreich ein neuer politischer Abschnitt: Politiker und Experten reden inzwischen von der Zeit vor und der Zeit nach der Verhaftung des sozialistischen Hoffnungsträgers und ehemaligen Chefs des Internationalen Währungsfonds (IWF). Denn mit Strauss-Kahn verlässt nicht nur ein politisches Schwergewicht die Bühne - der Vorwurf der sexuellen Belästigung und Vergewaltigung bringt auch weitere Politiker in Bedrängnis. Viel mehr als in Deutschland konnten sich Frankreichs Spitzenpolitiker bislang auf das mediale Stillschweigen verlassen, wenn sie zahlreiche Affären unterhielten oder Frauen sogar sexuell belästigten.
Die öffentlich zelebrierte Verhaftung von Strauss-Kahn hat nun alle Schleusen geöffnet und es den Opfern offenbar erleichtert, von Erlebnissen zu berichten. Nahezu täglich melden sich Frauen zu Wort, die von sexuellen Übergriffen erzählen. Politikerinnen beschweren sich über schmutzige Witze und sexistische Bemerkungen ihrer Kollegen. Sportministerin Chantal Jouanna sagte, sie trage keine Röcke mehr vor einem männlichen Publikum, weil sie die Sprüche und Blicke nicht mehr ertragen wolle. Zuletzt hat sich der ehemalige Bildungsminister und Philosoph Luc Ferry zu Wort gemeldet: Er habe gehört, ein Mitglied der früheren Regierung sei in Marokko bei einer «Sexorgie mit kleinen Jungen» erwischt und nicht bestraft worden. Einen Namen nannte er bislang aber nicht.
«Wir müssen die Mauer des Schweigens brechen»
Auch der Fall von dem bis dahin sehr geachteten Staatssekretär für den öffentlichen Dienst, Georges Tron, sorgte für Entsetzen. Zwei Frauen im Alter von 34 und 36 Jahren hatten wenige Tage nach der Verhaftung von Strauss-Kahn Anzeige gegen Tron erstattet, weil er sie mehrfach sexuell belästigt haben soll. Er habe sich im Rathaus seiner Heimatgemeinde Draveil hinter verschlossenen Türen auf sie gestürzt. «Als ich sah, dass es ein Zimmermädchen mit Dominique Strauss-Kahn aufnehmen kann, sagte ich mir, dass ich reden muss», erklärte eine der beiden Klägerinnen. «Wir müssen die Mauer des Schweigens brechen.» Der konservative Politiker Tron musste daraufhin binnen zwei Tagen seinen Posten verlassen. Denn nach DSK ist die französische Öffentlichkeit bei weitem nicht mehr so nachsichtig mit den sexuellen und aggressiven Eskapaden ihrer Repräsentanten wie bislang. In den Leitartikeln von Tageszeitungen bezichtigen sich Journalisten nun selbst, zu lange weggesehen zu haben.
Dabei galten im Nachbarland Frauenhelden lange Zeit als besonders Erfolg versprechende Regenten. Französische Medien respektierten mehr als die deutsche und noch sehr viel mehr als die angelsächsische Presse das ausschweifende Privatleben von Spitzenpolitikern wie François Mitterand und Jacques Chirac. Kaum ein französischer Präsident, dem nicht unzählige Frauengeschichten nachgesagt werden. Dieses Mal aber ist alles anders: Der lange als Schürzenjäger belächelte und sogar bewunderte Strauss-Kahn soll nicht verführt, sondern vergewaltigt haben. Auch die freigeistige französische Kultur hat dies erschüttert.
Kein anderes Thema hat die Medien in Frankreich so beherrscht wie DSK. Weder die Schwangerschaft von Präsidentengattin Carla Bruni noch die Atomkatastrophe von Fukushima haben die Schlagzeilen so sehr bestimmt wie Strauss-Kahn. Das ist in erster Linie ein Problem der Sozialisten, die höchstwahrscheinlich mit Strauss-Kahn in den Präsidentschaftswahlkampf für 2012 gezogen wären. «Der Fall ist ein wahrer Donnerschlag», sagte Parteichefin Martine Aubry. Dabei macht es DSK den oppositionellen Sozialisten doppelt schwer: Nicht nur, dass ihr ehemaliger Hoffnungsträger vor Gericht steht. Der Politiker gibt nun auch noch Millionen für seine Verteidigung aus und wohnt in einem New Yorker Luxus-Loft. So spotten die Mitglieder von Präsident Nicolas Sarkozys Partei genüsslich über den «Kaviar-Sozialisten». Schliesslich wollten die Sozialisten ursprünglich mit «Volksnähe» und «Bescheidenheit» über Sarkozy triumphieren.
Die Affäre DSK wird langfristig mehr Frauen in Frankreichs Spitzenpositionen bringen. Finanzministerin Christine Lagarde wird vor allem deswegen als künftige Chefin des IWF gehandelt, weil sie als Frau für sexuelle Übergriffe unverdächtig ist. Und Martine Aubry gilt inzwischen als wahrscheinliche Präsidentschafts-Kandidatin für die Sozialisten. So wird der Skandal um Strauss-Kahn auch in Europa noch lange nachwirken.