Mensch statt DossierSwisscom schaut bei Lehrstellen-Vergabe nicht mehr auf Schulnoten
Wer sich bei Swisscom für eine Lehrstelle bewirbt, muss kein Schulzeugnis mehr einreichen. Der Telko will stattdessen die Menschen und ihre Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen.
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Darum gehts
Die Jobsuche für Lernende verläuft seit Jahren nach dem gleichen Schema: Wer eine Stelle antreten will, reicht ein Bewerbungsdossier und ein Motivationsschreiben ein und hofft auf eine Einladung zum Gespräch. Das Schulzeugnis ist dabei meist zentral – wer keine guten Noten hat, kriegt oft gleich eine Absage.
Swisscom versucht nun etwas Neues: Ab Anfang August rekrutiert der Telko Lernende, ohne ihren Lebenslauf und ihre Noten zu kennen. Das Pilotprojekt läuft zuerst in der Deutschschweiz. Swisscom wolle die Menschen und ihre Fähigkeiten ins Zentrum stellen.
Noten sind wenig aussagekräftig
«Wir kriegen auf 250 Lehrstellen rund 8000 Bewerbungen», sagt Marc Marthaler, der Verantwortliche für die Lernendenbildung der Swisscom, im Gespräch mit der Redaktion. Das sei zwar erfreulich, aber die passenden Bewerberinnen und Bewerber zu finden, sei eine Herausforderung und zeitaufwändig.
Ein Grund für das neue Modell sei, dass Schulnoten oft wenig aussagekräftig sind (siehe Box). Denn die Ausgangslage für Noten sei je nach Kanton, Gemeinde, Schule und Lehrperson unterschiedlich. Man misstraue den Schulnoten nicht generell. «Sie zeigen aber leider nicht, was eine Person wirklich antreibt», sagt Marthaler.
Noten zeigen nicht, wie gut jemand Probleme lösen kann
Die Bewerberinnen und Bewerber geben beim Stelleninserat ihre wichtigsten Personaldaten an und erhalten im Anschluss einen Link, der sie zu einem Videointerview führt. Nach einleitenden Fragen, zum Beispiel zum Startzeitpunkt, beantworten sie fünf weitere Fragen, wobei sie für jede 60 Sekunden Zeit haben, um sich vorzubereiten.
Mindestens zwei Personen von Swisscom schauen sich diese Interviews unabhängig voneinander an und entscheiden, wen sie zum Rekrutierungsnachmittag in Bern, Olten und Zürich einladen. An diesem Tag müssen die Personen Aufgaben lösen, die ihrem Jobprofil entsprechen. Es gibt zudem Einzelgespräche, Teamaufgaben und eine Präsentation.
Sollten Noten bei der Einstellung von Personal eine Rolle spielen?
Besteht da nicht die Gefahr, dass sich Menschen, die sehr gute Noten haben, aus Trotz nicht mehr bewerben? «Das können wir nicht ganz ausschliessen», sagt Marthaler. Es stelle sich aber auch die Frage, ob das die richtigen Kandidatinnen und Kandidaten wären. «Nur mit guten Noten wird man bei uns nicht glücklich.»
In der Schweiz gibt es zahlreiche Leistungstests, etwa den Multicheck, den Basic Check und den Stellwerk-Test. Warum setzt Swisscom nicht auf diese? Viele seien kostenpflichtig, sagt der Telko, und man finde Lernende besser mit selbst definierten Kriterien. Das Pilotprojekt «Mensch vor Dossier», das mindestens zwei Jahre laufen soll, will Swisscom laufend auswerten. Bei Erfolg sei es denkbar, dass man das Modell ausweite.
Weitere Firmen könnten folgen
«Schulzeugnisse haben nur eine beschränkte Aussagekraft», sagt auch Personalexperte Matthias Mölleney. Es sei schon länger so, dass die Noten in den Unternehmen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Dass Swisscom allerdings gar keine Schulzeugnisse mehr verlange, sei aussergewöhnlich.
Wenn Swisscom 8000 Bewerbungen auf 250 Stellen kriege, gebe es drei Möglichkeiten, damit umzugehen: entweder erhöhe man die Hürden für eine Bewerbung, stocke die HR-Abteilung auf, oder man mache den Bewerbungsprozess effizienter. Swisscom habe sich offenbar für die letzte Variante entschieden.
Das sei nachvollziehbar, sagt Mölleney. Es sei gut möglich, dass weitere Firmen dem Beispiel folgen. Einen Nachteil gebe es aber doch: Das Bewerbungsmodell könnte dazu führen, dass sich introvertierte Menschen weniger oft bewerben. Denn Videointerviews seien für diese Menschen oft schwierig, sagt Mölleney.
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