Ukraine-Krieg«Verhandlungen mit Russland könnten den Krieg womöglich beenden»
Soll der Westen Russland Zugeständnisse machen, um die Angriffe auf die Ukraine zu stoppen? Laut Experten ist Friede am Verhandlungstisch grundsätzlich möglich – die Hürden sind aber hoch.
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Darum gehts
Die deutsche Links-Politikerin Sahra Wagenknecht erntete kürzlich einen Sturm der Entrüstung. «Die Hauptforderungen von Putin für das Kriegsende sind offenbar die Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn die deutsche und französische Regierung auf dieser Grundlage nicht Gespräche zum Stopp der Eskalation und des Blutvergiessens unterstützen würden.» Das schrieb Wagenknecht am Dienstag auf Twitter.
Remo Reginold, Direktor des Swiss Institute for Global Affairs (SIGA), hat hingegen durchaus Verständnis für Wagenknechts Überlegungen: «Die Option für Verhandlungen sollte in einem Krieg immer im Raum stehen», sagt er. Denn im Moment reagiere der Westen mit ähnlich machtpolitischer Rhetorik wie Putin. «Der Unterschied ist, dass die Nato-Länder den Krieg nicht selber führen, sondern als Stellvertreter einfach die Ukraine bewaffnen.»
«Russland fordert eine neutrale Ukraine»
Für Reginold ist es durchaus wahrscheinlich, dass am Verhandlungstisch eine Lösung gefunden werden könnte, um den Krieg zu beenden, bei der beide Seiten ihr Gesicht wahren könnten: «Was Russland – derzeit mit seiner Militärmacht – fordert, ist eine neutrale Ukraine. Das Land soll sich weder der EU noch der Nato weiter annähern.»
Das sei grundsätzlich seit den 1990er-Jahren beschlossene Sache, sagt Reginold. Bloss halte sich der Westen mit der Nato-Osterweiterung nicht wirklich daran. «So sehr ich den Krieg in der Ukraine auch verurteile: Putin bestärkt damit eine Forderung, die er und seine Vorgänger seit über 20 Jahren stellen. Dieses Narrativ ist stringent, auch wenn man es durchaus hinterfragen sollte.»
«Schweiz interessiert Russland kaum»
Dass derzeit lediglich eine «Russland ist Böse»-Rhetorik herrscht, ist laut Reginold problematisch: «Natürlich ist der Angriff aufs Schärfste zu verurteilen. Doch es gibt nicht nur schwarz und weiss.» So habe der Westen in der Vergangenheit leider ebenfalls mehrfach internationales Recht verletzt. Beispiele für einen Bruch des Völkerrechts durch die Nato und die USA seien etwa der Balkan- und der Irakkrieg gewesen.
Obwohl Reginold Gespräche mit Russland begrüssen würde, sieht er kaum Aussicht auf Erfolg. Die Schweiz spiele höchstens eine untergeordnete Rolle: «Ob die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland übernimmt oder nicht, war sicher eine wichtige Entscheidung für uns. Putin dürfte das aber kaum interessiert haben. Seine Botschaft richtet sich an die grossen geopolitischen Player, also an die USA und China.»
«Moskau und Kiew könnten sich einigen»
Skeptischer steht der Schweizer Diplomat Tim Guldimann Gesprächen mit Putin gegenüber: «Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Zentrales Prinzip aber ist, dass eine Verständigung mit Moskau nur auf der Grundlage des Völkerrechts erzielt werden kann», sagt er. Mit der Annexion der Krim und später dem Einmarsch in der Ukraine habe Putin das Völkerrecht mehrfach gebrochen. Für Guldimann wäre es deshalb falsch, dem russischen Machthaber allein aufgrund der militärischen Gewalt in der Ukraine und der Bedrohung für ganz Europa Zugeständnisse zu machen.
Ein solches Zugeständnis wäre laut Guldimann zum Beispiel die nachträgliche völkerrechtliche Anerkennung der Annexion der Krim. «Theoretisch möglich wäre hingegen, wenn sich Moskau und Kiew auf der Basis des Völkerrechts auf die Verschiebung der Grenzen verständigen. Ebenso könnten sich beide Seiten über den künftigen sicherheitspolitischen Status der Ukraine, zum Beispiel über eine garantierte Nato-Nichtmitgliedschaft, einigen.»
«Putins Plan ist bis heute nicht aufgegangen»
«Wenn man irgendeinen Weg findet, sich im gegenseitigen Respekt über eine friedliche Beilegung dieses Kriegs zu einigen, wäre das natürlich für alle von Vorteil», sagt Guldimann. Aber: «Dafür braucht es in erster Linie Flexibilität von Russland und die Bereitschaft, international anerkannte Verträge zu respektieren und vor allem die Souveränität der Ukraine explizit anzuerkennen. Dabei könnte sich der Westen auch einmal mit Moskau darüber unterhalten, welche Fehler von westlicher Seite am Ende des Kalten Kriegs gemacht wurden.»
«Putins erste Strategie war, schnell nach Kiew zu marschieren und die Regierung von Selenski zu entmachten. Dieser Plan ist bis heute nicht aufgegangen», sagt Guldimann. «Der Krieg bedroht massiv die Sicherheit von ganz Europa und schafft wohl auf Jahre hinaus eine böse Konfrontation zwischen einem isolierten Russland und der westlichen EU respektive der Nato. Was wir derzeit erleben, ist eine radikale Veränderung der europäischen Landkarte. Das scheint leider noch nicht in einem breiten Bewusstsein anzukommen, auch nicht in allen Konsequenzen für unser Land.»
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