Hitzige Debatte: Verzichten «anständige» Bürger auf Sozialhilfe?

Aktualisiert

Hitzige DebatteVerzichten «anständige» Bürger auf Sozialhilfe?

Laut einer HSG-Professorin funktioniert unser Sozialsystem nur, da Bürger Hemmungen hätten, Geld zu beziehen. Dieser «Anstand» bröckle aber. Die Aussage provoziert.

von
J. Büchi
Wie viele Leute auf staatliche Hilfe verzichten, obwohl sie Anspruch darauf hätten, lässt sich nicht genau beziffern.

Wie viele Leute auf staatliche Hilfe verzichten, obwohl sie Anspruch darauf hätten, lässt sich nicht genau beziffern.

Nicht alle Leute, die Anspruch auf Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, IV oder Prämienverbilligungen haben, beziehen diese Gelder auch. «Ich bin zu stolz, um Geld vom Staat zu nehmen», ist eine weitverbreitete Einstellung. Wie viele Leute auf staatliche Unterstützung verzichten, obwohl sie Anspruch darauf hätten, lässt sich nicht genau beziffern. Schätzungen im Bereich der Sozialhilfe reichen von einem Viertel bis zu 85 Prozent der Betroffenen.

Diese «Hemmungen», staatliche Hilfen zu beziehen, seien der Grund, weshalb der Schweizer Sozialstaat bis heute funktioniere, schreibt die Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler von der Universität St. Gallen (HSG) in einem Gastbeitrag in der «Schweiz am Sonntag». Die Schweiz profitiere «vom Anstand ihrer Bürger»: Viele verzichteten im Hinblick auf künftiges Einkommen oder dank Unterstützung durch Verwandte auf die Leistungen, die ihnen auf Papier zustünden.

Nur solange diese Hemmungen bestünden, blieben «die hohen Sozialleistungen und die grosszügigen Subventionen» finanzierbar, so die Professorin. Allerdings gebe es Anzeichen dafür, dass der «Anstand» der Leute am Bröckeln sei. Bütler vergleicht die Entwicklung mit einer tickenden Bombe, die unser Sozialsystem bedrohe.

«Nicht Anstand, sondern Scham»

SP-Nationalrätin Bea Heim ist empört. «Davon zu sprechen, es sei anständig, auf Sozialleistungen zu verzichten, ist den Betroffenen gegenüber respektlos», findet sie. Meist seien es Schamgefühle oder ein fehlendes Wissen um die eigenen Rechte, die dazu führten, dass Armutsbetroffene auf staatliche Hilfen verzichteten. «Die Folge ist, dass sich diese Leute so stark einschränken, dass sie sich nicht mehr richtig ernähren und zu spät zum Zahnarzt oder zum Arzt gehen.» Das führe in die Verwahrlosung und bedeute am Ende auch hohe Folgekosten für das Gesundheitswesen.

Auch dass im Artikel von «grosszügigen» Sozialleistungen die Rede ist, stört Heim: «Ich frage mich, ob Frau Bütler schon einmal mit IV-Bezügern, Working Poors oder anderen Leuten zu tun hatte, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.»

«Dann fahren wir unser Sozialsystem an die Wand»

SVP-Nationalrat Sebastian Frehner hingegen teilt die Bedenken der Wirtschaftsprofessorin: «Bis in die 80er-Jahre hat man es in der Schweiz als Demütigung empfunden, Leistungen vom Staat zu beziehen.» Die explodierenden Sozialkosten seien ein Beleg dafür, dass viele Menschen diesen urschweizerischen Stolz verloren hätten. «Heute macht es vielen Leuten nichts mehr aus, dem Staat zur Last zu fallen – im Gegenteil. Es herrscht die Einstellung, wer dieses Recht nicht nutze, sei selber schuld.»

Es gelte nun, Fehlanreize zu beseitigen und einen weiteren Ausbau des Sozialstaats zu verhindern, so Frehner. «Wenn alle, die in irgendeiner Form staatliche Leistungen beziehen könnten, dies auch tun, dann fahren wir unser Sozialsystem geradewegs an die Wand.»

Bea Heim widerspricht: «Die soziale Stabilität ist eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Stärke der Schweiz. Sozialer Frieden und Sicherheit – davon profitieren alle.» Heim ist überzeugt: «Wenn der politische Wille da ist, kann die Schweiz durchaus einen Sozialstaat finanzieren, der seinen Namen verdient.» Bei Missbräuchen müsse man genau hinschauen – aber alle echten Betroffenen müssten ihre Leistungen ohne Wenn und Aber beziehen dürfen.

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