«Später Geld verdienen»Videos des lockeren Lebens setzen junge Schweizer unter Druck
Auf Tiktok kursieren Videos, die Menschen in ihren Zwanzigern ansprechen und einen unkonventionellen Lebensstil propagieren. Eine Psychologin warnt, dass dies viele unter Druck setze.
Darum gehts
Auf Social Media gibt es zahlreiche Videos, die sich für das Reisen und gegen eine berufliche Karriere aussprechen.
Diese Videos können laut einer Psychologin Unzufriedenheit auslösen.
Sie sagt, Ziel solle es nicht sein, alle seine Träume auszuleben.
Selbstverwirklichung statt Ausbildung oder Arbeit: Das taten laut dem Statistischen Amt der Europäischen Union 2022 rund 568’000 junge Erwachsene allein in Deutschland. In der Schweiz betrug der Anteil der Menschen zwischen 15 und 24, die weder in der Ausbildung noch auf dem Arbeitsmarkt stehen, im Jahr 2020 ganze sechs Prozent. Neuere Zahlen sind nicht verfügbar.
Auf Social Media ist der Trend zum Geniessen des Lebens aber seit kurzem omnipräsent. «Geld kommt zurück, aber du wirst nie mehr in deinen Zwanzigern sein und in der Nacht in Paris Scooter fahren», heisst es in einem Tiktok-Video mit 3,4 Millionen Aufrufen.
Beiträge wie dieser rufen Menschen dazu auf, ihre jungen Jahre voll auszukosten. Damit ist besonders das Reisen gemeint – eine klassische Berufskarriere wird abgelehnt. Einige Userinnen und User wehren sich gegen die Botschaft. «Man kann Paris in jedem Alter geniessen. Das Leben endet nicht mit 30», heisst es etwa.
«Die meisten posten nur die tollsten Aspekte ihres Lebens»
«Für junge Erwachsene sind die sozialen Medien und das dort von anderen Menschen gezeigte Leben oft ein wichtiger Teil der Lebenswelt», erklärt Psychologin Katja Erni. Die Videos würden fast ausschliesslich aussergewöhnliche Erlebnisse, grossen Spass oder Reisen zeigen. «Gleichaltrige Personen haben oft ähnliche Herausforderungen und Interessen. Dies kann einen Druck auf die Menschen auslösen, wie etwa ein Leben in den Zwanzigern sein sollte», so Erni.
«Die meisten Menschen posten nur die tollsten Aspekte ihres Lebens. Dies kann eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben auslösen, das im Vergleich als langweilig betrachtet wird.» Ab 30 sehe der Alltag bei vielen Menschen anders aus und andere Themen beschäftigen sie: Familie oder Pflichten im Beruf. Dies zeige sich auch in den Inhalten auf Social Media.
Das steckt hinter dem «Fomo»-Gefühl
Das Gefühl, etwas zu verpassen, wird im Englischen «fear of missing out» (Fomo) genannt. Es komme von der menschlichen Urangst, von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, erklärt Erni. «Das Leben in einer sozialen Gruppe hat uns früher unser Überleben gesichert.»
Zudem könnten durch gesellschaftliche Umstände, wie etwa die Wirtschafts- und Klimakrise Unsicherheiten entstehen. «Für junge Personen scheint ihre Zukunft bedroht. Eine Möglichkeit darauf zu reagieren ist, sich auf den Moment zu fokussieren und das Leben jetzt zu geniessen.»
«Leben geniessen als Protest gegen Gesellschaftsdruck»
Die heutige Gesellschaft definiere sich zu einem grossen Teil über Leistung und beruflichen Erfolg. Eine gesellschaftliche Erwartung an junge Menschen sei, dass sie ein arbeitendes Mitglied der Leistungsgesellschaft würden, indem sie beispielsweise zum Rentensystem beitragen.
Die eigene Pensionierung sei für junge Personen jedoch weit weg, das Leben im Moment viel bedeutsamer. «Vor diesem Hintergrund kann das Leben zu geniessen und zu reisen auch als Protest gegen den Druck der Gesellschaft verstanden werden. Diese Zeit kommt nicht mehr, Geld verdienen ist später auch noch möglich.»
Wichtig sei, sich zu fragen, was einem im Leben wichtig ist, rät Erni. «Zudem sollte man nicht vergessen, dass es nicht das Ziel sein sollte, alles erlebt zu haben.» Sonst könnten Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit auftauchen. «Träumen ist aber eine schöne Sache und eine gute Ablenkung vom oft stressvollen Alltag.»
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