Balkonsturz in Montreux«Vorfall übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen»
In Montreux sind fünf Familienmitglieder aus dem siebten Stock gesprungen, nachdem die Polizei den Vater vorladen wollte. Überlebt hat einzig der 15-jährige Sohn. Thomas Knecht, forensischer Psychiater, ordnet ein.
- von
- Christiane Binder
- Deborah Gonzalez
- Gabriela Graber
Darum gehts
In Montreux im Kanton Waadt sind am Donnerstagmorgen fünf Personen aus dem siebten Stock eines Wohnhauses gestürzt. Ein 40-jähriger Vater, seine 41-jährige Ehefrau, deren Zwillingsschwester und die achtjährige Tochter des Paares kamen dabei ums Leben. Einzig der 15-jährige Sohn hat den Sturz schwer verletzt überlebt.
Die genauen Umstände der Stürze seien gemäss Kantonspolizei Waadt momentan noch nicht klar. «Die Familie ist weder der Polizei noch der Justiz zuvor bekannt gewesen», stellt der Polizeisprecher klar. Fest steht: Die Beamten wollten offenbar unmittelbar vor dem Sturz einen Vorführungsbefehl gegen den Vater im Zusammenhang mit dem Homeschooling eines der Kinder vollstrecken.
Ob man in diesem speziellen Fall von einem «gemeinsamen Suizid» sprechen kann, erklärt der forensische Psychiater Thomas Knecht.
Herr Knecht, haben Sie ein Ereignis wie dieses schon einmal erlebt?
Es ist mit Sicherheit ein sehr seltenes Ereignis. Fünf Menschen aufs Mal, mir ist kein zweites Beispiel aus der letzten Zeit bekannt.
Kann man von einem gemeinsamen Suizid sprechen?
Von Suizid zu reden, ist immer dann eine schwierige Frage, wenn ein Mensch nicht alleine in den Tod geht. Die Machtstruktur zwischen den Personen kann dann eine Rolle spielen. Es kann also sein, dass sozusagen «nachgeholfen» wird.
Eine der Toten ist ein achtjähriges Mädchen. Könnte das auf sie zutreffen?
Das ist ein Grenzfall. Man kann sagen, dass Kinder unter sieben, acht Jahren noch nicht in dem Alter sind, wo Suizid eine Rolle spielt. Dieses Mädchen dürfte unter diese Altersgrenze fallen.
Der Sohn dagegen ist schon 15 …
Man darf nicht vergessen: Auf dieser Stufe der Identitätsentwicklung ist der Anteil «Kind» noch sehr hoch. In diesem Alter ist ein Mensch noch sehr anfällig für extreme Sichtweisen.
Wie kann es sein, dass ein Erwachsener seine Kinder in den Tod zwingt?
Es ist noch zu früh, ein Urteil abzugeben. Aber in diesem Fall könnte Isolation eine Rolle gespielt haben. Die Familie sah sich vielleicht als Überlebenseinheit, abgekapselt von der Umwelt. Ausser der Frage des Homeschoolings gab es vielleicht noch andere Konflikte und die Familie war wenig verflochten mit dem sie umgebenden Gesellschaftssystem. Man weiss noch nicht, was alles diese Menschen vom Rest der Welt getrennt hat.
Könnte eine psychische Störung eine Rolle gespielt haben?
In diesem Fall glaube ich das nicht. Die Familie lebte ersten Medienberichten zufolge sehr weit weg von der Norm. Ihre Haltung könnte gewesen sein: «Jetzt ist alles verloren.»
Wie erlebt das ein Polizist, der nichtsahnend ein Schriftstück abgibt?
Ein derartiger Vorfall übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen. Ohne psychologische Nachsorge ist das Verarbeiten oft nicht möglich. Hat die Person nach einem Monat noch Symptome, Alpträume etwa, empfiehlt sich eine Traumatherapie.
Was wird mit dem 15-jährigen Überlebenden geschehen?
Er wird eine massive Überforderung erleben. Vor allem, wenn er realisiert, dass er nun keine Familie mehr hat. Er wird noch eine ganze Zeit als Suizidgefährdeter behandelt werden und schrittweise an sein neues Leben herangeführt werden müssen.
Hast du oder hat jemand, den du kennst, Suizidgedanken? Oder hast du jemanden durch Suizid verloren?
Hier findest du Hilfe:
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Seelsorge.net, Angebot der reformierten und katholischen Kirchen
Muslimische Seelsorge, Tel. 043 205 21 29
Jüdische Fürsorge, info@vsjf.ch
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