Ziviler UngehorsamWas bringt die neue Strategie der Klimastreiker?
Ziviler Ungehorsam statt bewilligte Streiks: Weil sie von der Politik enttäuscht sind, schalten die jungen Aktivisten einen Gang höher.
- von
- Pascal Michel
Darum gehts
- Junge Klimaaktivisten besetzen seit Montag den Bundesplatz in Bern.
- Sie zeigen sich enttäuscht von der Politik und stellen umfassende Forderungen auf.
- Dazu nutzen sie auch das Mittel des zivilen Ungehorsams. Es droht eine Räumung des Platzes.
- Politologe Mark Balsiger würdigt den Coup, warnt aber auch davor, dass die Bewegung mit illegalen Aktionen ihre Breite verlieren könne.
Die Klimastreik-Bewegung hat sich radikalisiert: Erstmals spannt sie mit Extinction Rebellion und Collective Climate Justice zusammen und besetzt illegal seit Montag den Bundesplatz in Bern. Der Grund für den Strategiewechsel liegt in der Ernüchterung nach den bisherigen bewilligten Klimastreiks: Nachdem die Gruppe Klimastreik Schweiz unter der weltweiten, von Greta Thunberg angeführten Bewegung vor zwei Jahren für mehr Klimaschutz auf die Strasse ging, reicht diese Protestform den Jugendlichen nicht mehr.
«Viele, die damals politisiert wurden, sind desillusioniert. Wir dachten, wir könnten etwas verändern, mussten aber erkennen, dass uns die Politik nicht ernst nimmt», sagt Frida Kohlmann, Sprecherin der Aktionswoche «Rise Up for Change».
«Fühlen uns im Stich gelassen»
Dass jetzt auch illegale Aktionen zum Protestrepertoire gehören, erklärt Kohlmann so: «Wir fühlen uns von der Politik im Stich gelassen und können nicht mehr zuwarten.» Auf der Website verweist die Bewegung auf einen Forderungskatalog und stellt ihre Aktionen in eine Tradition des gewaltfreien Widerstands von Gandhi oder der Besetzung von Kaiseraugst (1975).
Bei den Parlamentariern kommt die Aktionswoche, die bis Freitag dauern soll, sofern der Platz nicht vorher von der Polizei geräumt wird, unterschiedlich an. Während im links-grünen Lager Parlamentarier sich mit den Aktivisten solidarisieren, fordert etwa FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen die Räumung des Platzes. Gleicher Meinung sind die Nationalratspräsidentin Isabelle Moret (FDP) und gar Ständeratspräsident Hans Stöckli (SP). Die Quittung der Aktivisten kam postwendend via Twitter: «Statt endlich uns und die Klimakrise ernst zu nehmen, bekämpft das Parlament einmal mehr die, welche für Klimagerechtigkeit und gegen den Mord an Menschen kämpfen.»
Umfassende Forderungen
Unabhängig davon, ob es zur Räumung kommt oder nicht: Was kann die Strategie des zivilen Ungehorsams tatsächlich bewirken? Die Forderungen der Bewegung sind umfassend: Umbau zur ökologischen Landwirtschaft, Investitionsstopp in klimaschädliche Finanzprodukte, transparente Demokratie und eine Klimapolitik, die hauptsächlich von den Verursachern – «den reichen Ländern» – finanziert wird.
«Mit dieser professionell abgewickelten Besetzung des Bundesplatzes ist die Klimabewegung zurück in den Medien», stellt Politologe Mark Balsiger fest. Dass die Politik deshalb das Tempo in der Umweltpolitik erhöhe, glaube er aber nicht. «Die Mühlen mahlen in der Regel langsam. Allerdings hat das Covid-19-Gesetz gezeigt, dass es in Notsituationen auch schnell gehen kann. Die Corona- und die Klimakrise haben offensichtlich nicht dieselbe Dringlichkeit.»
Neue Strategie birgt auch Risiken
Die Strategie des zivilen Ungehorsams beurteilt Balsiger kritisch. «Die Klimabewegung riskiert mit illegalen Aktionen wie dieser auf dem Bundesplatz, ihre enorme Breite zu verlieren.» Die bewilligten Kundgebungen von früher seien ja in Erinnerung geblieben, weil während Monaten Tausende Leute kreativ, friedlich und mit ungebrochenem Enthusiasmus mitmachten.
Balsiger sieht aber gute Voraussetzungen, dass die Aktionswoche vor dem Bundeshaus der Bewegung weitere Aufmerksamkeit verschaffen kann. «Bis jetzt ist das Camp auf dem Bundesplatz ein friedliches Happening, bei meinem Rundgang spielten sie Karten, es finden Gespräche statt.»
Allerdings sei die Klimabewegung nicht homogen. «Teile davon werden den Platz nicht freiwillig räumen.» Am Montagnachmittag duldete die Stadt Bern die Aktion, bot aber den Aktivisten einen alternativen Standort an. Ob diese das Angebot annehmen, ist bisher nicht bekannt.
«Wenn die Situation eskaliert, verlieren alle, weil ab dann nicht mehr die Klimakrise, sondern der Tumult im Fokus steht», sagt Balsiger. Die Klimaschüler würden pokern, um das nationale Parlament unter Druck zu setzen. Die institutionelle Politik mache nicht mit, wie die Reaktionen der Spitzen von National- und Ständerat zeigten.
Warum keine Initiative?
In den sozialen Medien warfen Politikinteressierte und Politiker die Frage auf, warum die Klimastreikenden nicht ihren Forderungskatalog in Form einer Volksinitiative durchsetzen würden. Frida Kohlmann betont, dass sich viele Jugendliche aus der Bewegung mit direktdemokratischen Mitteln engagierten. Auf dem Programm der Aktionswoche steht auch am Donnerstag ein Workshop zu «Klima-SOS-Volksinitiativen und alternative Notrufe». Mark Balsiger merkt an, für eine Volksinitiative brauche es einen langen Schnauf, in der Regel dauere es vier Jahre von der Lancierung bis zur Abstimmung. «Diese Geduld hat die Klimabewegung nicht. Sie weist mit Vehemenz darauf hin, dass die Klimakrise schnell ein wirksames Massnahmenpaket braucht.»