Schweizer Arbeitsmarkt: Wegen Fachkräftemangel – müssen wir bald bis 70 arbeiten?

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Schweizer ArbeitsmarktWegen Fachkräftemangel – müssen wir bald bis 70 arbeiten?

In der Schweiz herrscht akuter Fachkräftemangel, gleichzeitig gibt es wenig Arbeitslosigkeit. Jetzt fordert der Arbeitgeberverband, das Arbeitsvolumen solle steigen.

Reto Bollmann
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Reto Bollmann
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Hierzulande sind so viele Arbeitskräfte gesucht wie lange nicht mehr, gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief. Laut Arbeitgeberverband sind 120’000 Stellen unbesetzt.

Hierzulande sind so viele Arbeitskräfte gesucht wie lange nicht mehr, gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief. Laut Arbeitgeberverband sind 120’000 Stellen unbesetzt.

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Verschiedene Branchen klagen über einen Fachkräftemangel, weswegen der Arbeitgeberverband jetzt acht Punkte vorstellt, mithilfe derer der Mangel gelindert werden soll.

Verschiedene Branchen klagen über einen Fachkräftemangel, weswegen der Arbeitgeberverband jetzt acht Punkte vorstellt, mithilfe derer der Mangel gelindert werden soll.

20min/Ela Çelik
So müsse die tatsächliche Arbeitszeit erhöht werden, statt über eine weitere Senkung nachzudenken. Bestehende Fehlanreize müssten dazu abgeschafft werden.

So müsse die tatsächliche Arbeitszeit erhöht werden, statt über eine weitere Senkung nachzudenken. Bestehende Fehlanreize müssten dazu abgeschafft werden.

SPLINT

Darum gehts

  • Der Fachkräftemangel hat sich zum grössten Bremsklotz für die Schweizer Wirtschaft entwickelt, schreibt der Arbeitgeberverband.

  • Rund 120’000 Stellen bleiben demnach unbesetzt.

  • Deshalb präsentiert der Verband eine Liste von Punkten, mithilfe derer der Schweiz die Fachkräfte nicht ausgehen sollen.

Seit Jahrzehnten fehlten nicht mehr so viele Arbeitskräfte wie momentan, gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit sehr tief. Der Arbeitgeberverband schreibt, 120’000 Stellen seien in der Schweiz unbesetzt. Und diese Entwicklung werde sich noch deutlich verschärfen: Eine Million Babyboomer gehen in Pension. Der Verband hat darum eine Liste von acht Lösungsansätzen zusammengestellt, mithilfe derer der Fachkräftemangel in verschiedenen Branchen gelindert werden soll – hier die acht Punkte im Überblick.

Erhöhung der Arbeitszeit

Erstens fordert der Verband eine Erhöhung der Arbeitszeit. Die erwerbstätige Bevölkerung arbeite jährlich 14 Tage weniger, als dies noch vor zehn Jahren der Fall gewesen sei. Deshalb müsse das Arbeitsvolumen gesteigert werden – eine Senkung, wie sie teilweise diskutiert wird, sei nicht zielführend. Fehlanreize, die eine Reduktion der Arbeitszeit fördern, sollen eliminiert und politische Bestrebungen, welche eine Reduktion der Arbeitszeit zum Ziel haben, sollen abgelehnt werden.

Angebot von Drittbetreuungsplätzen ausbauen

Zweitens fordert der Arbeitgeberverband einen Ausbau des Angebots von Drittbetreuungsplätzen. An gewissen Orten fehle es gänzlich an Tagesschulen und Kitas, während sie andernorts zu teuer seien. Der Ausbau solle deshalb staatlich gefördert werden. Alles Geld, das die Kinderbetreuung subventioniert, müsse in zusätzliche Arbeit oder Aus- und Weiterbildung fliessen und nicht in mehr Freizeit.

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Erhöhung des Rentenalters

Drittens soll auch das Rentenalter steigen. Eine generelle Erhöhung habe unter anderem zur Folge, dass ältere Angestellte länger im Arbeitsmarkt verbleiben. Neue Arbeitsmodelle würden dies zusätzlich begünstigen. Mit 65 Jahren würden Schweizerinnen und Schweizer durchschnittlich den Arbeitsmarkt verlassen, dies aufgrund eines der tiefsten Rentenalter Europas. Die neuen Modelle würden vorsehen, bis 70 Jahre oder noch länger zu arbeiten.

Berufsbildung stärken

Gemäss Arbeitgeberverband werden viertens viele Tätigkeiten in der modernen Arbeitswelt immer komplexer, fordern aber nicht zwingend akademischere Ausbildungen. Der Verband fordert deshalb, dass das Interesse der Jugendlichen und ihrer Eltern an einer Berufsbildung wieder gestärkt wird.

Reaktion des Gewerkschaftsbundes

Als Reaktion auf die Forderungen des Schweizerischen Arbeitnehmerverbands reagiert der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB mit ihren Gegenargumenten. Hier die Stellungnahme:

«Seit einiger Zeit müssen sich die Arbeitgeber um ihr Personal bemühen. Das ist gut und überfällig. Sie nennen das Fachkräftemangel. Die naheliegende Antwort wäre, dass sie die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsumfeld verbessern. Doch die Arbeitgeber wollen das Rad der Zeit zurückdrehen, d. h. längere Arbeitszeiten, mehr Überstunden, weniger Arbeitnehmerschutz – nota bene ohne dass es in den letzten Jahren Reallohnerhöhungen gegeben hätte. Die Folgen davon wären mehr Stress und Burnouts – nicht gerade förderlich für die Attraktivität von Arbeitsplätzen.

Über 200’000 Erwerbslose sind auf Stellensuche, finden aber keine Arbeit. Viele Arbeitnehmende beklagen sich über Leerläufe und sinnlosen Stress an ihrem Arbeitsplatz. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Chefs in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt.

Wer es sich leisten kann, arbeitet Teilzeit – um Zeit für die Familie zu haben oder um eine selbst bezahlte Aus- und Weiterbildung zu absolvieren. Der höhere Teilzeitanteil ist auch die Folge der erfreulicherweise steigenden Erwerbsbeteiligung der Frauen. Frauen, aber auch Männer, die hälftige Verantwortung bei der Kinderbetreuung übernehmen, können Arbeit und Familie oft nur mit einer Teilzeitanstellung vereinbaren.  

Die Schweizer Beschäftigungspolitik muss fortschrittlich sein. Das heisst: nur wenn Beruf und Familie vereinbar sind, nur wenn Arbeit nicht krank macht und nur wenn alle gut von ihrer Arbeit leben können, hat sie eine Zukunft.

Der SGB ist stimmt den Arbeitgebern darin zu, dass die öffentliche Hand mehr Verantwortung bei den Kitas übernehmen muss. Darüber hinaus braucht es aber zeitgemässe Arbeitszeiten und Löhne. Lohnerhöhungen sind überfällig. Wer eine Lehre hat, soll mindestens 5’000 Franken verdienen. Zudem sollen die Arbeitgeber die Organisation der Arbeit in ihren Betrieben verbessern.»

Finanzierung von Akademikern

Fünftens fordert der Verband, Akademikerinnen und Akademiker sollten ihre Studienkosten amortisieren müssen, da diese weiterhin einen Trend zu immer kleineren Pensen zeigen würden. Der Verband schreibt, die teurere Ausbildung der Akademikerinnen und Akademiker lohne sich anderenfalls gesellschaftlich immer weniger.

Zuwanderung für Arbeitsmarkt

Trotzdem müsse eine arbeitsmarktgetriebene Zuwanderung weiterhin möglich sein, schreibt der Verband. Andernfalls könne der Fachkräftemangel nicht gedeckt werden.

Flexiblere Arbeitszeiten

Siebtens fordert der Arbeitgeberverband flexiblere Arbeitszeiten – das aktuelle Arbeitsgesetz gehe auf die 1960er-Jahre zurück. Hier wird gefordert, dass ein neues Gesetz stärker auf die heutigen und künftigen Bedürfnisse und Forderungen der Arbeitnehmenden und der Arbeitgeber ausgerichtet sein müsse.

Förderung von Menschen mit Beeinträchtigung

Und schliesslich wird gefordert, dass Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen weniger häufig aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Ein ressourcen- anstatt defizitorientiertes Denken soll hier zusammen mit mehr Prävention Abhilfe schaffen.

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