Verschüttete Chilenen: Wehe, wenn der Fressneid aufkommt

Aktualisiert

Verschüttete ChilenenWehe, wenn der Fressneid aufkommt

33 Kumpel müssen wohl bis Weihnachten unter Tage ausharren – in Enge und Hitze. Wie hält man eine solche Situation durch? Eine Expertin klärt auf.

von
Runa Reinecke

Das Wichtigste ist ihnen geblieben: das Leben. Jetzt müssen die in Chile unter Tage verschütteten Bergleute geduldig auf ihre Befreiung warten – vermutlich bis Weihnachten.

Noch sind die Kumpel guter Dinge und stimmen voller Freude gemeinsam in die Nationalhymne ein, noch; denn bald könnte sich das Blatt wenden: Hohe Luftfeuchtigkeit, Temperaturen um die 38 Grad und das fehlende Tageslicht zehren langfristig an den Nerven der Verschütteten, wie Dr. Johanna Hersberger, Fachpsychologin aus Basel, im Interview mit 20 Minuten Online bestätigte.

Die eingeschlossenen Überlebenden sind guter Dinge. Fragt sich nur, wie lange das noch anhält.

Johanna Hersberger: Darüber kann im Moment nur spekuliert werden. Es kommt darauf an, wie sich die Männer in ihrer Situation organisieren. Einerseits ist es wahrscheinlich, dass einer die Führungsposition übernimmt, es könnte aber auch zur Gruppenbildung kommen.

Wäre Letzteres schlechter?

Bei der Gruppenbildung ist das Konfliktpotenzial grösser. Je nachdem, wie diese Konstellation aussieht, könnte die Stimmung schneller kippen. In Männergruppen ist es aber häufiger, dass einer die Führung übernimmt und versucht, das Geschehen in positive Bahnen zu lenken. Das weiss man aus Erzählungen von Männern, die in eine vergleichbare Situation geraten sind.

Wer eignet sich für eine solche Führungsposition?

Das wird vermutlich eine Person sein, die von allen akzeptiert wird. Jemand, der gesund und erfahren ist, dem vertraut wird und der überzeugen kann. Er besitzt trotz der allgegenwärtigen Ohnmacht ein gewisses Mass an Handlungsfähigkeit. Das Gefühl gebraucht und respektiert zu werden schützt ihn in gewissem Masse vor seelischen Verletzungen.

Die Kumpel stehen über einen Schacht in Kontakt mit der Aussenwelt. Wie wichtig ist diese Verbindung für die Eingesperrten?

Sehr wichtig. Je besser der Informationsfluss, der von aussen kommt, desto besser geht es den Männern in ihrer misslichen Lage.

Wo besteht ein besonderes Konfliktpotenzial?

Die Verteilung der Essensrationen spielt eine wichtige Rolle – hier kann es zu Meinungsverschiedenheiten kommen.

Gibt es Phasen, die Eingeschlossene in einer solchen Situation normalerweise durchmachen?

Zunächst herrscht Euphorie – eine Art Honeymoon-Effekt. Die Betroffenen sind glücklich, überlebt zu haben. Danach kommt es zum Umbruch: Sie fühlen sich ohnmächtig und hilflos in ihrer Situation – sie müssen in Handlungsunfähigkeit geduldig ausharren, bis sie geborgen werden. In dieser Phase ist es denkbar, dass es Kumpel gibt, die ausfallend werden. In solchen Momenten muss die Gruppe stark genug sein, um die Situation aufzufangen.

Was kann für die Betroffenen in dieser Phase hilfreich sein?

Hier helfen regelmässige Tagesabläufe und Struktur. Dazu gehören Essens- und Ruhezeiten, Zeiten für Bewegung oder Sport. Auch das Erzählen von Geschichten oder das Spielen eines Quiz' hilft, die Wartezeit erträglicher zu machen. Diese kritische Phase wird als Durchhaltephase bezeichnet. Die letzten noch verbleibenden zehn bis 14 Tage sind im überschaubaren Rahmen. Natürlich sind diese Phasen nicht statisch – es wird vermutlich während der ganzen Zeit unter Tage immer wieder zu Wechseln zwischen positiven und negativen Stimmungsabschnitten kommen.

Kann man durch einen derartigen Zustand ein bleibendes Trauma erleiden? Wie sehen die Symptome aus?

Das kommt auf die Konstitution an – immerhin sind die Bergleute es gewohnt, auf engem Raum zusammenzusein. Auch die vorherrschenden Bedingungen wie Enge, hohe Luftfeuchtigkeit und Hitze kennen sie. Traumata können nach einmaligen und kurzzeitigen, aber auch nach lang anhaltenden schlimmen Erlebnissen auftreten. Es gibt Überlebende des Holocaust, die nicht traumatisiert waren, während ihre Leidensgenossen schwere Traumata davontrugen.

Wer erträgt derart schwierige Situation am besten?

Menschen, die widerstandsfähig sind und sich gut gegen solche Verletzungen schützen können. Dabei kann es sich um in der Lebensgeschichte erworbene Fähigkeiten handeln. Dazu zählt beispielsweise ein schlimmes Erlebnis, das ein positives Ende nahm und unter diesem positiven Aspekt im Gedächtnis gespeichert wurde. Aber auch ein gut funktionierendes soziales Netz ist äusserst hilfreich.

Wie werden die Bergleute nach ihrer Befreiung lernen, mit ihren Erlebnissen klarzukommen?

Zunächst geht die medizinische Versorgung vor. Danach gilt es abzuwägen, wer in welchem Masse psychologisch betreut werden muss. Das lässt sich aber noch nicht voraussagen. Klagt ein Betroffener selbst nach vielen Wochen noch über schlimme Albträume, muss das natürlich abgeklärt werden.

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