Narrative: So streiten wir über die Schweiz

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Kontrovers«Wehrhaft», «solidarisch», «neutral» – so streiten wir über die Schweiz

Wie sehen die grossen Parteien die Schweiz, worauf sind sie stolz, was betonen sie in Reden – und wie hat sich das verändert? Das zeigt erstmals eine grosse Studie.

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Politikerinnen und Politiker schwingen gerne grosse Reden. 

Politikerinnen und Politiker schwingen gerne grosse Reden. 

Enzo Lopardo
Ob an 1.-August-Feiern oder zu anderen Anlässen: Mit Reden, aber auch mit Communiqués und Schriften, prägen Politikerinnen und Politiker Bilder der Schweiz, die sich in den Köpfen der Einwohner festsetzen. 

Ob an 1.-August-Feiern oder zu anderen Anlässen: Mit Reden, aber auch mit Communiqués und Schriften, prägen Politikerinnen und Politiker Bilder der Schweiz, die sich in den Köpfen der Einwohner festsetzen. 

Enzo Lopardo
Die nationale Identität wird durch grosse Erzählungen, sogenannte Narrative, geprägt. 

Die nationale Identität wird durch grosse Erzählungen, sogenannte Narrative, geprägt. 

20min/Matthias Spicher

Darum gehts

  • Welche grossen Erzählungen prägen das Bild, das Schweizerinnen und Schweizer von ihrem Land haben?

  • Wie haben sie sich verändert und wie haben Parteien und Politikerinnen und Politiker diese Bilder mit Reden und Schriften geprägt? 

  • Das hat eine grosse Studie erstmals untersucht. Die Erkenntnis: Rechte Parteien haben diesen Diskurs zunehmend geprägt.

Ob am 1. August, zu Neujahr, im Wahlkampf oder an Parteitagen: Politikerinnen und Politiker lieben grosse Reden. Darin sprechen sie über die Ideale, Werte und Prinzipien der Schweiz: Sie kreieren gemeinsame nationale Erzählungen, sogenannte Narrative.

Diese sechs Narrative prägen die Schweizer Identität seit Jahrzehnten

Pro Futuris, der Think Tank der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, hat mit der Uni Zürich und dem Forschungsinstitut Sotomo auf der Basis von 14’000 Dokumenten aus den letzten 40 Jahren sechs dominante Narrative für die Schweiz analysiert. Sie lauten:

«Die Schweiz ist ein freiheitsliebendes, wehrhaftes Land, das Bedrohungen von innen und aussen erfährt.»

Die Erzählung befasst sich mit der militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unabhängigkeit und Souveränität der Schweiz. Die Schweiz könne sich dank ihrer Wehrbereitschaft und Entschlossenheit wehren. Die SVP prägt das Narrativ mit Begriffen wie «Eigenständigkeit», aber auch «kriminelle Ausländer» oder «Gutmenschen» sind zentral.

Pro Futuris/Sotomo

«Unabhängigkeit, Souveränität und Stabilität sind Garanten des wirtschaftlichen Wohlstands in der Schweiz.»

Die Schweiz als attraktiver Wirtschaftsstandort steht im Zentrum, die durch Unabhängigkeit stark geworden sei. Selbstversorgung, Zuverlässigkeit und Schweiss haben zum wirtschaftlichen Erfolg geführt. Die Wirtschaft setzt auf Begriffe wie «wettbewerbsfähig», die Linke auf «Sozialpartner» oder «gleicher Lohn».

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der souveränen, unabhängigen Schweiz im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der souveränen, unabhängigen Schweiz im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

Pro Futuris/Sotomo

«Die Schweiz ist ein Land mit einer starken humanitären Tradition, in dem für alle gesorgt wird.»

Die Grundbedürfnisse der Bevölkerung sind für alle gesichert, humanitäres Denken ist wichtig. Die Schweiz ist stolz auf ihre humanitäre Tradition. Linke und Gewerkschaften setzen auf Begriffe wie «Ungleichheit», «Gerechtigkeit», oder «Menschenrechte», Rechte kontern mit «Asylant» oder «Masslosigkeit».

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der solidarischen Schweiz mit starker humanitärer Tradition im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der solidarischen Schweiz mit starker humanitärer Tradition im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

Pro Futuris/Sotomo

«Direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität sind das politische Erfolgsmodell der Schweiz.»

Der Erfolg beruht auf dem politischen Modell. Die Begriffe «neutral» und «souverän» werden von der SVP forciert, die Linken setzen auf «Transparenz», «Volksrechte» oder «Grundwerte».

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der neutralen, direktdemokratischen, föderalistischen Schweiz im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der neutralen, direktdemokratischen, föderalistischen Schweiz im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

Pro Futuris/Sotomo

«Die Schweiz ist eine multikulturelle Willensnation.»

Damit wird die kulturelle, geografische und sprachliche Vielfalt zelebriert. Trotz Unterschieden finden die Schweizerinnen und Schweizer immer wieder zusammen. Generell wird hier viel über «Zusammenhalt» gesprochen, linke Parteien setzen auf «Bereicherung» und werfen den Rechten «Fremdenfeindlichkeit» vor. Diese kontern mit Begriffen wie «Wucher».

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der Schweiz als multikulturelle Willensnation im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der Schweiz als multikulturelle Willensnation im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

Pro Futuris/Sotomo

«Die Schweizerinnen und Schweizer sind ein Alpenvolk.»

Tradition, Natur und Heimat – die Alpen sind hier wichtig. Figuren wie Heidi spielen eine zentrale Rolle. Die Schweiz ist das Mutterland im Herzen Europas. Linksparteien nannten häufig den Begriff «Réduit», die Wirtschaft sprach von «urchig», rechte Parteien vom «Abendland».

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der Schweiz als Alpenvolk im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

So hat sich die relative Bedeutung des Narrativs der Schweiz als Alpenvolk im Vergleich zu den anderen Narrativen bei den Parteien entwickelt. 

Pro Futuris/Sotomo

Die Grafik zeigt die Entwicklung der Bedeutung dieser Narrative. Das sind die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie:

So hat sich die relative Bedeutung der sechs Narrative im Verlauf der Zeit verändert. 

So hat sich die relative Bedeutung der sechs Narrative im Verlauf der Zeit verändert. 

Pro Futuris/Sotomo

Rechte Parteien dominieren den Diskurs

In den letzten 40 Jahren hat die Bedeutung der rechten Parteien im Narrativ-Gebrauch konstant zugenommen. Das Narrativ der «freiheitsliebenden, wehrhaften Schweiz» ist im Vergleich mit den anderen das bedeutendste.

Parteien interpretieren die Narrative unterschiedlich

Die SVP hat die Erzählung von der «freiheitsliebenden, wehrhaften Schweiz» im Verlauf der Zeit immer stärker mit der Migrationsfrage verknüpft. Beim Narrativ des «wirtschaftlichen Wohlstands» sprechen die Wirtschaftsverbände über internationalen Wettbewerb, Standortattraktivität und Swissness. Die Gewerkschaften verwenden denselben Begriff, um nach innen zu schauen und sprechen von Sozialpartnerschaft und Zahnregulierung.

Narrative können verschieden genutzt werden

Politische Akteure können bestehende nationale Narrative nutzen, um sie positiv zu würdigen – oder um sie zu entwerten. Ist dies das Ziel, werden im Zusammenhang mit diesem Narrativ Schlagworte mit negativer Bedeutung gebraucht, etwa der Begriff «Scheininvalide».

Pol-Parteien versteifen sich auf ein Narrativ

Die SP am linken und die SVP am rechten Ende des politischen Spektrums haben laut der Studie bei der Bewirtschaftung von Narrativen ein Problem: Sie fokussieren oft auf ein einzelnes Narrativ und vergessen die anderen.

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