Hauptsache, «dagegen» sein«Wir stehen zu Putin» – darum weibeln Massnahmen-Skeptiker für Russland
Corona-Skeptiker, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker teilen in den sozialen Netzwerken Putin-freundliche Ansichten zum Ukraine-Krieg. Ein Experte sagt, wie die beiden Themen zusammenhängen.
- von
- Lisa Horrer
Darum gehts
Während der Corona-Pandemie teilten sie Verschwörungstheorien, äusserten sich massnahmenkritisch und sprachen sich gegen die Impfungen aus. Nun positionieren sich im deutschsprachigen Raum dieselben Personen in der Ukraine-Krise – und schlagen sich auf Putins Seite. Unter ihnen befinden sich auch Prominente wie etwa die Sänger Xavier Naidoo und Michael Wendler.
In Telegram-Gruppen heisst es etwa, dass die Ukraine kein souveränes Land sei und ein Naziproblem habe. Argumente, die Putin selber in seiner Kriegsbegründung vorbrachte. Andere Telegram-User verbinden ihre bisherigen Anliegen mit der Aktualität und behaupten, der Krieg sei für Regierungen und Medien der «perfekte Anlass, um von den Schäden der Corona-Massnahmen sowie der Impfung abzulenken». Viele betonen ihre grundsätzlich pro-russische Position und schreiben: «Wir stehen zu Russland, zu Präsident Putin.»
«Massvoll» und andere Gruppierungen äusserten sich nicht
Auch bekannte massnahmen- und impfkritische Gruppen äussern sich in den sozialen Netzwerken. Aber «Aufrecht Schweiz», das «Aktionsbündnis Urkantone» oder «Massvoll» thematisieren Putin und seine Linie nicht direkt. Ihnen ist jedoch gemein, dass sie sich allesamt gegen die von der Schweiz ergriffenen Sanktionen und gegen die «Aufhebung der Neutralität», wie sie es sehen, aussprechen.
So schreibt etwa das «Aktionsbündnis Urkantone» in einem Statement: «Mit den aktuellen Sanktionen gegen Russland wurde die verfassungsmässige Neutralität der Schweiz, die sich in den vergangenen 200 Jahren bewährt hat, gebrochen und vollständig über Bord geworfen.» Und der Verein «Aufrecht Schweiz» hat dieser Tage Strafanzeige gegen SP-Co-Präsident Cédric Wermuth eingereicht, weil dieser dazu aufrief, die Desinformation der russischen Behörden zu sabotieren. Wermuth rufe zu einem Cyberangriff, also zu einer Straftat auf, lautet der Vorwurf.
Hauptsache: Gegen den «Mainstream»
Doch wie kommt es zu dieser thematischen Wende von der Pandemie zum Ukraine-Konflikt? Dirk Baier, Professor an der ZHAW Soziale Arbeit und Experte für Verschwörungstheorien, erklärt, dass für diese Personen letztlich das konkrete Thema irrelevant sei. «Hätte es den Krieg in der Ukraine nicht gegeben, wäre es ein anderes Thema, zu dem diese Personen in Opposition zur weithin geltenden, von der Mehrheit der Gesellschaft geteilten Interpretation gegangen wären.»
Weiter sagt Baier, die Corona-Skeptiker, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker seien nicht in erster Linie für etwas, also etwa für Putin, den Angriffskrieg und dessen Rechtfertigung, sondern gegen etwas: gegen die Meinung des «Mainstreams». Das sei darauf zurückzuführen, dass die Personen die Aktualität und die Weltlage für manipuliert und von gewissen Mächten herbeigeführt halten.
Baier nennt einen weiteren Aspekt: Vielen dieser Gruppen sei mit dem Ende der Massnahmen Sinn und Identität abhandengekommen, die sie vorher in massnahmenkritischen Bewegungen gefunden hätten. Diesen Personen fehle Stabilität im persönlichen Umfeld, weshalb sie weiter nach Antworten suchten und schnell an verschwörungstheoretische Weltbilder gelangten.
Welche Rolle spielt Russia Today Deutschland (RT DE) in Corona-Skeptiker- und Verschwörungstheoretiker-Kreisen?
Ein weiterer Zusammenhang zwischen den Themen Covid und Ukraine-Krieg, neben jenen von Dirk Baier genannten, könnte auch dieser sein: Russische Staatsmedien bedienten während der vergangenen zwei Jahre die Interessen von Massnahmen- und Impfkritikern in auffälliger Regelmässigkeit.
Fernsehsender wie der russische Staatssender Russia Today (RT) sind unter Massnahmenkritikern, Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern eine vielzitierte Quelle. Der Putin-nahe Sender ist für seine tendentiöse Berichterstattung bekannt. Das belegt auch eine Studie des «Instituts für strategischen Dialog» aus dem letzten Jahr.
In der Studie des Instituts untersuchten Analystinnen die beliebtesten Videos von RT DE mit Fokus auf die Corona-Berichterstattung. 67 der 100 meistgeschauten Videos hatten Corona-Bezug und positionierten sich kritisch gegenüber Corona-Massnahmen in verschiedenen demokratischen Staaten sowie gegenüber Corona-Impfstoffen aus dem Westen.
Weiter fanden die Analystinnen heraus, dass die Behauptungen in den Videos oft irreführende oder falsche Informationen über das Virus enthielten. Der Fernsehsender habe wiederholt auf Verschwörungsmythen angespielt und Desinformationen über die öffentliche Gesundheit geteilt. Zudem seien zweifelhafte Experten aufgetreten.
Auch der Frage nach der Stellung des Senders in der Skeptiker-Szene gingen die Analystinnen nach. Sie stellten fest, dass die Top 50 Facebook-Gruppen, die am häufigsten Links zu den beliebtesten RT DE Youtube-Videos geteilt hatten, alle Corona-Leugner, Impfverweigerer, Verschwörungstheoretiker und Rechts- oder Linkspopulisten gewesen seien.
Zudem untersuchten die Analystinnen 279 deutschsprachige Telegram-Kanäle aus dem «rechtsextremen und verschwörungsideologischen Milieu». Dort gehört die Webseite von RT DE zu den zehn populärsten Domänen insgesamt und zu den Top fünf der populärsten Nachrichtenseiten.
Nothilfe für Menschen in der Ukraine
Hast du oder hat jemand, den du kennst, ein Trauma erlitten?
Hier findest du Hilfe:
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, Tel. 058 400 47 77
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143