Gefahr durch Aerosole?Wissenschaftler greifen BAG wegen 1,5-Meter-Regel an
Forscher machen Druck auf das BAG, Corona-Ansteckungen durch kleinste Tröpfchen in die Strategie einzubeziehen. Wegen der zu starren Abstandsregel wiegten sich die Leute in falscher Sicherheit.
- von
- Pascal Michel
- Daniel Waldmeier
Stefan Kuster vom BAG sagt, Aerosole spielten bei Covid-Ansteckungen keine grosse Rolle. Wissenschaftler sehen das anders.
Darum gehts
Laut Wissenschaftlern spielt die Übertragung des Virus durch kleine Teilchen, die in der Luft bleiben, eine bedeutendere Rolle als zunächst angenommen.
Sie fordern das BAG auf, auf die Gefahr durch Aerosole offensiv hinzuweisen.
Mit der zweiten Welle erhält auch die Frage nach den Ansteckungswegen neue Brisanz. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), und mit ihr auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG), geht davon aus, dass eine Corona-Infektion über grössere Tröpfchen, die nicht weiter als einen Meter fliegen, der Hauptansteckungsweg ist. Ansteckungen über kleinste Tröpfchen, sogenannte Aerosole, sind laut der WHO zwar möglich, sie spielten aber eine untergeordnete Rolle.
Zusammen mit Hunderten Wissenschaftlern weltweit fordern nun zahlreiche Schweizer Forscher die WHO und das BAG auf, endlich über die Bücher zu gehen. Sie sind sich sicher: Die Gesundheitsbehörden unterschätzten die Gefahr durch Aerosole. Diese schwebten in schlecht gelüfteten Innenräumen ein bis zwei Stunden lang in der Luft, sodass man sich trotz Abstand anstecken könne. So schreiben zehn renommierte Professoren Aerosolen bei Superspreading-Events eine grosse Bedeutung zu: Viele Ansteckungen seien von Chören, Bars oder Schlachthöfen bekannt, wo gesungen oder geschrien werde.
«Lassen Leute naiv in Gefahrensituationen rennen»
«Wir wussten seit dem Sommer von der Übertragung durch Aerosole. Die Beweise, dass es ein bedeutender Ansteckungsweg ist, sind seither nur zahlreicher geworden», sagt etwa die Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Basel. Das BAG solle darum auch Informationen zur Übertragung durch Aerosole in die Kampagne aufnehmen. «Es sollte betonen, dass eine Übertragung in geschlossenen und schlecht belüfteten Räumen auch über mehr als zwei Meter Distanz passieren kann.»
Die Epidemiologin stellt auch die 1,5-Meter-Regel infrage, da sich die Leute in falscher Sicherheit wiegten. Die Behörden liessen die Leute naiv in gefährliche Situationen rennen, indem sie ihre Empfehlungen nicht aktualisierten. Mit ihrer Meinung steht Hodcroft nicht allein da.
Schulen und Büros als Ansteckungsherde?
So sagt auch die Epidemiologieprofessorin Olivia Keiser von der Universität Genf, 1,5 Meter Abstand seien in Innenräumen nicht ausreichend. Darauf deuteten Ansteckungen an Superspreader-Events hin, aber auch, dass der Ansteckungsort laut Contact-Tracing sehr oft unbekannt sei. «Hier sollte das BAG über die Bücher gehen und die Aerosol-Problematik endlich anerkennen.» Die ausgedehnte Maskenpflicht und die Homeoffice-Empfehlung seien sinnvoll.
Doch in Büros, aber auch in Schulen, gebe es nach wie vor keine schweizweite Maskenpflicht. «Stundenlang ohne Masken im Schulzimmer zu sitzen, kann wegen der Aerosole dazu beitragen, dass das Virus zum Teil auch unbemerkt verbreitet wird.» Umso wichtiger sei auch das regelmässige Lüften.
BAG bestellt neuen Bericht
Beim BAG heisst es, man wisse nicht, wie viele Ansteckungen über mehr als 1,5 Meter Distanz passierten, an der Abstandsregel hält der Bund fest. Wie Stefan Kuster, Leiter Abteilung übertragbare Krankheiten beim BAG, am Dienstag sagte, ist die erweiterte Maskenpflicht keine Reaktion auf Ansteckungen durch Aerosole. Primär gehe es darum, die Tröpfcheninfektion in Innenräumen zu unterbinden.
Kuster verwies darauf, dass ein Masernpatient 18 weitere Personen anstecke, bei Covid-19 seien es derzeit 1,6. Diese Diskrepanz zeige den Unterschied im Ansteckungsweg dieser zwei Krankheiten. Es gebe aber einen Graubereich. «Aerosole haben wahrscheinlich einen Anteil an der Übertragung, aber der Anteil ist aus der Sicht des BAG nicht so relevant, dass man den ganzen Fokus darauf legen sollte.»
Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen. So ist das Masernbeispiel für die Verfechter der Aerosol-Theorie kein schlagendes Argument. Auch die Lungenkrankheit Mers werde nachweislich über Aerosole übertragen, obwohl Mers deutlich weniger ansteckend sei als die Masern. Das BAG hat nun bei der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes einen neuen Bericht zum Thema bestellt. Martin Ackermann, der Leiter der Taskforce, sagte am Freitag, es gebe neue Evidenz. Man werde die Schlussfolgerung dem BAG «sehr gerne schnell zur Verfügung stellen». Die Taskforce will am Freitag informieren.
Coronavirus-Infos
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