Kindsmissbrauch: Zu Tode erzogen, im Namen des Herrn

Aktualisiert

KindsmissbrauchZu Tode erzogen, im Namen des Herrn

Am ersten Prozesstag um das Sektendrama aus Wila stand der Vater der beiden gequälten Kinder im Mittelpunkt. Er offenbarte sich als Überzeugungstäter und verteidigte seine grausamen Erziehungsmethoden.

Attila Szenogrady
von
Attila Szenogrady
Kalte Duschen gehörten zu den Strafmethoden in der sektenartigen Gemeinschaft in Wila.

Kalte Duschen gehörten zu den Strafmethoden in der sektenartigen Gemeinschaft in Wila.

Nur einmal war der heute 44-jährige Angeklagte den Tränen nahe. Er erinnerte sich an den 10. Mai 2006 zurück. An jenen Tag, als seine bald fünfjährige Tochter Anna im Spital an ihren schweren Hirnverletzungen verstarb. Seine damalige Lebenspartnerin hatte das bereits auf zwölf Kilogramm abgemagerte Mädchen auf dem Badezimmerboden zu Tode geschüttelt.

Das sei das Schlimmste, was ihm passiert sei, erklärte der Angeschuldigte, der mit nach hinten gebundenen langen Haaren und einem sportlich trainierten Körper vor die Geschworenen getreten war.

Ansonsten zeigte sich der Vater äussert selbstbewusst, immer wieder angriffig und bisweilen unverhohlen arrogant.

Unschuldig vor Gott

Zum Prozessauftakt wurde die umfangreiche Anklageschrift verlesen. Darin führte die Staatsanwaltschaft auf, wie der Angeklagte bereits ab 1998 in einer sektenähnlichen Gemeinschaft in einem abgelegenen Haus Wila lebte und seine beiden Töchter einem strengen Erziehungsregiment unterzog. Dazu gehörten Schläge, Nahrungsentzug, kalte Duschen, Schlafen auf dem Boden und stundenlanges Stillsitzen oder Treppensteigen.

Der Angeschuldigte berief sich auf die Lehre des konservativen Theologen Jakob Lorber, der im 19. Jahrhundert eine strenge Zucht der eigenen «Brut» gefordert hatte. Mit dem Ziel, den Willen und den Trotz der Kinder zu brechen. Der Angeklagte verteidigte vor den Geschworenen diese alltestamentarische Einstellung und bezeichnete sich deshalb als unschuldig vor Gott. Wer seine Kinder nicht bestrafe, liebe sie nicht, gab er zu Protokoll.

Verlogene Doppelmoral

Die richterliche Befragung des Vorsitzenden Pierre Martin entlarvte die religiöse Überzeugung des in England geborenen Angeklagten allerdings als verlogene Doppelmoral. So rechtfertigte der Vater die harte Bestrafung seiner beiden Kinder mit deren zahlreichen Lügen. Er selber hatte während der Untersuchung keine Mühe, die Behörden wiederholt brandschwarz anzulügen.

So hatte er bei sieben polizeilichen Einvernahmen wahrheitswidrig behauptet, dass seine jüngere Tochter ihre tödlichen Verletzungen bei einem Sturz von der Treppe zugezogen habe. Ebenso hatte er noch vor drei Jahren angegeben, dass er nie wieder ein Kind zeugen werde. Im letzten Juli hat ihm seine neuste Freundin eine Tochter auf die Welt gebracht. Der Säugling lebt heute bei Pflegeeltern.

Mit «Fehldiagnose» IV-Rente ergattert

Der Angeklagte liess auch keine Gelegenheit aus, den zuständigen Gerichtspsychiater anzuschwärzen. Die festgestellte Persönlichkeitsstörung bezeichnete er als absichtliche Fehldiagnose des Arztes. Er habe aber einen gesunden Geist, sagte er. Was ihn aber nicht daran hinderte, mit dem gleichen, von ihm verteufelten Attest monatlich Invalidengelder für 1300 Franken zu kassieren.

Seinen beiden Töchtern untersagte er den ungesunden Konsum von Schokolade und das Anhängen von Ohrschmuck. Wobei es ihn nicht störte, selber Haschisch zu rauchen und einen Ohrring zu tragen.

Sozialpädagogin als klassische Mitläuferin

Am Abend wurde die zweite wegen schwerer Körperverletzung angeklagte Person befragt. Die heute 62-jährige Sozialpädagogin war eine Wohnpartnerin des kiffenden Patriarchen und trat als klassische Mitläuferin in Erscheinung. So erklärte sie vor Gericht, dass der Angeklagten neuen Wind in ihr Leben gebracht habe und sie ihn heute noch bewundere. Er sei wie ihr älterer Bruder.

Die Befragung zu ihrer Vergangenheit ergab, dass die Ostschweizerin schon früher sektenanfällig war und Anfang der neunziger Jahre mit einem Beitritt in die Bhagwan-Sekte sogar ihren damals siebenjährigen Sohn verlassen hatte.

Später wandte sie sich auch den Lehren Lorbers zu und musste deshalb ihren Job als Sozialpädagogin an den Nagel hängen. Fest steht, dass sie das tyrannische Strafsystem ihres Wohnpartners unterstützte. Dies bestätigte auch der Vater. So habe ihn im Haushalt niemand daran gehindert, seine Kinder auf seine Weise zu züchtigen, sagte er.

Ex-Freundin: Vorsätzliche Tötung?

Am Dienstag wird der Prozess mit der ersten Zeugin fortgesetzt. Es handelt sich um die heute 26-jährige Ex-Freundin des Gurus. Sie soll sich im nächsten Frühling wegen vorsätzlicher Tötung vor einem anderen Gericht verantworten. Am Mittwoch stehen die Videoaufnahmen der zweiten Tochter auf dem Programm. Die heute zwölfjährige Schülerin hat den Horror überlebt, soll jedoch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden.

20 Minuten Online ist vor Ort und berichtet laufend.

Deine Meinung