Politiker brauchen PolizeischutzMachen Drohbürger unsere Demokratie kaputt?
Wer sich politisch exponiert, ist oft massiven Drohungen ausgesetzt. Ein Sozialwissenschaftler sowie eine Mehrheit der Stimmberechtigten machen sich Sorgen.

- von
- Claudia Blumer
Darum gehts
Politikerinnen und Politiker sind während der Corona-Pandemie zum Teil massiven Drohungen ausgesetzt.
Teilweise laufen deswegen Strafverfahren.
Diese Entwicklung dürfe man nicht hinnehmen, sagt Sozialwissenschaftler Marko Kovic.
FDP-Nationalrätin Doris Fiala macht es so: Nach einer kontroversen Debatte, etwa am Sonntagabend auf «Tele Züri», öffnet sie zwei Wochen lang keine Twitter- und Facebook-Seiten. «Ich versuche normalerweise, nicht zu provozieren. Doch während der Corona-Pandemie, etwa betreffend Impfthematik, provoziert jeder Standpunkt, ganz egal, welcher.»
Man könne vielleicht sagen, dass die Leute mit solchen Botschaften Dampf ablassen. «Doch sie stacheln sich auch gegenseitig an. Das ist gefährlich. Menschen empfinden bei gewissen Themen Ohnmacht und Wut, und werden extrem grob, weil sie nicht anders damit umgehen können.»
«Perfid, Familienmitglieder zu bedrohen»
SP-Nationalrat Cédric Wermuth bekommt normalerweise etwa eine Morddrohung pro Jahr. Doch seit Ausbruch der Pandemie hat sich dieser Rhythmus vervielfacht. Jetzt bekomme er alle paar Monate Drohungen, die er ernst nehmen müsse, sagt Wermuth. Eine Zeitlang sei er mehrmals pro Woche bedroht und beleidigt worden. «Besonders perfid ist es, wenn Mitglieder meiner Familie bedroht werden.» Es heisst dann etwa: «Ich weiss, wo die Person X zur Schule geht oder arbeitet.» Mehr will Wermuth nicht sagen. «Die Behörden bitten darum, aus ermittlungstaktischen beziehungsweise Präventions-Gründen keine Details bekanntzugeben.»
Mittlerweile wisse er: «Wenn SVP-Exponenten oder Journalisten mich angreifen, wird die ganze Facebook-Horde wieder mobilisiert und ich habe am nächsten Tag eine Reihe von üblen Beleidigungen und Drohungen im Briefkasten, in denen das Wording aus der Kritik eins zu eins übernommen wird. Die Absender seien auffällig oft ältere Herren, sagt Wermuth.
Meldungen mehr als verdreifacht
Die Schilderungen einzelner Politikerinnen und Politiker werden gestützt durch die Zahlen der Bundespolizei (Fedpol). Im ersten Covid-Jahr 2020 wurden dem Fedpol 885 Drohungen gemeldet, davon wurden 64 als tatsächlich gefährlich eingestuft. Die Zahl von 885 ist mehr als eine Verdreifachung gegenüber 2019, da wurden 246 Drohungen gemeldet. Diese Entwicklung hängt laut Fedpol mit der Pandemie zusammen, viele Drohungen beziehen sich darauf.
Es gab allerdings auch schon solche Spitzen: Während der Flüchtlingsjahre 2015 und 2016 stieg die Zahl auf über 1000 pro Jahr. Auch 2021 dürfte es in diese Richtung gehen. Zahlen für das laufende Jahr liegen jedoch noch nicht vor. Was man beim Fedpol aber feststellt: Jedes Mal, wenn wieder neue Massnahmen angekündigt werden oder wenn es an die Umsetzung geht, hat das Auswirkungen auf die Zahl und Intensität von Drohungsmeldungen.
Polarisierung macht den Stimmberechtigten Sorgen
Als einen der ersten prominenten Politiker traf es Gesundheitsminister Alain Berset, der massiven Drohungen ausgesetzt war und seit Monaten Polizeischutz benötigt. Bei seinem Auftritt in der SRF-«Arena» wurde er von der Sondereinheit «Skorpion» beschützt.
Früher reisten ranghohe Politiker mit dem Zug zweite Klasse. Heute brauchen sie Personenschutz. Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hält das für bedenklich, wie eine Umfrage von 20 Minuten und Tamedia von Mitte September ergeben hat. (20 Minuten berichtete über die Umfrageergebnisse.) Dass eine gesittete Debatte zunehmend erschwert wird, und die Gesellschaft in gewisser Weise gespalten ist, nehmen auch die Bürgerinnen und Bürger wahr. 66 Prozent der Befragten geben an, dass ihnen die Polarisierung Sorgen macht. Je jünger jemand ist, desto eher fürchtet er sich vor den aktuell aufgeheizten Debatten.
«Das dürfen wir nicht hinnehmen»
«Mit solchen Drohungen wird eine rote Linie überschritten. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass sich das normalisiert», sagt Sozialwissenschaftler Marko Kovic. «Was jetzt passiert, ist das Gegenteil der politischen Kultur, die wir in der Schweiz kennen. Dass man Politikerinnen und Politiker ansprechen, mit ihnen in Kontakt treten kann.» Dass dies heute nicht mehr gleichermassen möglich sei, mache ihm Sorgen, sagt Kovic. Dass Frust und Hass in die öffentliche Debatte überschwappt, dieser Trend habe übrigens schon vor Corona eingesetzt – initiiert durch die verstärkende Wirkung von Social Media. «Man wird diese Plattformen regulieren müssen, damit die Gesellschaft nicht auseinanderfällt.»
Vergleichbare Ausnahmesituationen wie etwa die 80er Unruhen seien anders gewesen, weil von den Unruhestiftern ein konstruktiver, progressiver Grundgeist ausgegangen sei. «Doch heute geht es nur um Hass. Es ist rein destruktiv.»
Die Urne ist ein Ventil
Der Zuger Historiker und frühere Grüne-Nationalrat Jo Lang sieht es anders: «Für uns Armeekritiker waren Drohungen schon in den Achtziger- und Neunzigerjahren alltäglich.» Doch im Unterschied dazu treffe es heute viel mehr Politikerinnen und Politiker, sogar Impf-Verteidiger aus der SVP. «Diese breite Betroffenheit ist etwas Neues.»
Dass sich die Freiheitstrychler auf die Verfassung berufen, sei ausserdem ein Import aus den USA. «Die Urschweiz hat noch jede Bundesverfassung abgelehnt.» Die Drohungen seien gefährlich genug, um die Sicherheitsvorkehrungen, die nach dem Zuger Attentat eingeführt wurden, zu würdigen, sagt Lang. Die direkte Demokratie habe jedoch eine deeskalierende Wirkung. «Wenn im November ein klares Ja zum Covid-Gesetz zustande kommt, kann das wirken wie eine kalte Dusche auf die Hitzköpfe.»
«Es sind einzelne»
Mitte-Präsident Gerhard Pfister beschwichtigt: Er werde ebenfalls bedroht, sei dagegen aber nicht aktiv geworden. «Es sind einzelne wenige Menschen, die sich daneben benehmen. Sie haben allerdings auch schlechte Vorbilder bei einigen Politikerinnen und Politikern.»
SVP-Präsident Marco Chiesa findet, es gehöre «ein Stück weit» zur Rolle eines Politikers, dass er Gegenwind oder Kritik erntet. «Wenn Äusserungen strafrechtlich relevant sind, dann ist dies mit den Strafverfolgungsbehörden und nicht mit den Medien zu besprechen.» (blu)
My 20 Minuten
Als Mitglied wirst du Teil der 20-Minuten-Community und profitierst täglich von tollen Benefits und exklusiven Wettbewerben!