Nach Absetzung des RegierungschefsUnruhen in Tunesien verschärfen sich – Büro von Al-Jazeera gestürmt
Nachdem der tunesische Präsident die Regierung entlassen hat, haben sich die Unruhen verschärft. Es kam zu tumultartigen Szenen. Zudem unterband die Polizei die Berichterstattung durch den TV-Sender Al-Jazeera.
In Tunesien ist die Lage nach der Entmachtung von Ministerpräsident Hichem Mechichi gespannt. Das Parlament in der Hauptstadt Tunis war am Montag von Sicherheitskräften umstellt. Aufgebrachte Demonstranten zogen vor das Gebäude und forderten Zugang. Einige versuchten, über das Tor zu klettern. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von Mechichi und solchen der islamisch-konservativen Regierungspartei Ennadha. Deren Anhänger wurden daran gehindert, sich dem Gebäude zu nähern. Zwischen den Anhängern beider Seiten flogen Flaschen und Steine, wie ein AFP-Reporter berichtete. Rached Ghannouchi, der Vorsitzende der Ennadha-Partei, rief zu einem Sitzstreik vor dem Parlamentsbegäude auf.
Zuvor hatte Präsident Kais Saied den Regierungschef abgesetzt und die Arbeit des Parlaments für zunächst 30 Tage eingefroren. Zudem werde die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben, kündigte Saied am Sonntagabend nach einem Treffen mit Militärvertretern an. Der ehemalige Juraprofessor versicherte, sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen. Kritiker sprechen hingegen von einem Putsch. Es handle sich um keinen Staatsstreich, versicherte der seit 2019 amtierende Präsident. «Wie kann ein Putsch auf dem Gesetz beruhen?» Saied beteuert, sich innerhalb des rechtlichen Rahmens zu bewegen. Mit Blick auf mögliche Unruhen sagte er: «Ich will keinen einzigen Tropfen Blut vergiessen lassen.» Gewalt werde aber umgehend mit Gewalt der Sicherheitskräfte beantwortet.
«Präsident, den wir lieben»
Unmittelbar nach Bekanntwerden von Mechichis Entlassung zogen tausende Unterstützer Saïeds in Tunis jubelnd auf die Strassen. «Dies ist der Präsident, den wir lieben», sagte die Demonstrantin Nahla. Ein etwa 40-jähriger Mann dagegen warnte mit Blick auf Saïed: «Diese Verrückten feiern die Geburt eines neuen Diktators.»
Das Militär hatte in der Nacht auch Ghannouchi davon abgehalten, das Gebäude zu betreten. Unterstützer von Präsident Saied hingegen feierten nachts auf den Strassen. Sie zündeten teils Leuchtfeuer und Feuerwerk und schwenkten Fahnen. Einige sangen die Nationalhymne. Auf Videos waren auch Militärfahrzeuge zu sehen, die durch klatschende Gruppen fahren.
Polizei entert Büro von Al-Jazeera
Am Montag stürmte die Polizei zudem das Hauptstadtbüro des Fernsehsenders Al-Jazeera. Mindestens zehn bewaffnete Beamte hätten das Büro in Tunis betreten und alle Journalisten aufgefordert, das Gebäude zu verlassen, berichtete der Sender. Die Polizisten hätten Telefone und anderes Gerät beschlagnahmt und erklärt, auf Anweisung der Justiz zu handeln. Durchsuchungsbefehle hätten sie nicht gehabt. Ihren persönlichen Besitz durften die Mitarbeiter nicht mitnehmen.
Der populäre Nachrichtenkanal wird von der Regierung Katars finanziert. Nach Ansicht von Kritikern bietet er Muslimbrüdern und anderen Islamisten zu viel Raum. Der Sender selbst beharrt darauf, ausgewogen zu berichten und ein breites Spektrum an Meinungen abzubilden.
Einzige Erfolgsstory im Arabischen Frühling
Viele Tunesier sind unzufrieden mit der Corona-Politik der politischen Führung. In dem nordafrikanischen Land steigt die Zahl der Corona-Infektionen massiv, in Krankenhäusern ist der Sauerstoff knapp. Ein hochrangiger Ennahdha-Funktionär äusserte jedoch anonym die Vermutung, dass die Gewalt bei landesweiten Corona-Protesten von Präsidentenanhängern bewusst geschürt worden sei, damit Saïed die Regierung und das Parlament absetzen könne.
Tunesien galt lange als die einzige anhaltende Erfolgsstory des Arabischen Frühlings, der 2011 die Herrschaft von Langzeitmachthaber Zine El Abidine Ben Ali beendet hatte. Allerdings hat es seither in zehn Jahren neun verschiedene Regierungen gegeben. Manche hielten nur wenige Monate, was die dringend nötigen Reformen in Wirtschaft und Verwaltung de facto unmöglich machte.
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